Ein Meilenstein in der Erforschung des schweizerischen Täufertums

LOWRY Brotherly Love II Cover

Das im Verlag der „Ohio Amish Library“ soeben erschienene Buch „Documents of Brotherly Love. Dutch Mennonite Aid to Swiss Anabaptists, Volume II, 1710-1711“ markiert einen Meilenstein in der Erforschung des schweizerischen Täufertums im frühen 18. Jahrhundert.

Auf imposanten 1400 Seiten präsentiert James W. Lowry 216 Dokumente zur dramatischen Geschichte der Repression des Täufertums in Bern und der umfangreichen Hilfe von niederländischen Doopsgezinden zugunsten ihrer Glaubensverwandten im Süden aus den Jahren 1710 und 1711. Die Edition zeichnet sich aus durch eine sorgfältige Transkription der (teils nur schwer entzifferbaren!) Quellen in den Originalsprachen, eine Übersetzung der vor allem niederländischen, deutschen und französischen Texte ins Englische sowie ein Register zu Personen, Orten und wichtigsten Schlüsselbegriffen. Gerade letzteres wird ein wichtiges Hilfsmittel auch für die genealogische Forschung sein.

Das Buch kostet $ 69.95 und ist direkt beim Verlag erhältlich (Ohio Amish Library Inc
4292 State Rt 39, Millersburg, OH 44654) oder via Masthof Press (http://www.masthof.com/).

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Auswanderung, Flucht und Deportation – langjährige Konstanten täuferischer Geschichte. Ein Kurz-Spot zur Täuferfamilie Liechti

Einer der beiden Chratzme-Höfe bei Landiswil, von wo 1671 der "besonders widerspenstige" Täufer Ueli Liechti mit seiner Familie fliehen musste.

Einer der beiden Chratzme-Höfe bei Landiswil, von wo 1671 der „besonders widerspenstige“ Täufer Ueli Liechti mit seiner Familie fliehen musste.

In diesen Tagen der omnipäsenten Flüchtlingsnot liegt es nahe, sich daran zu erinnern, dass Auswanderung und Flucht auch zu den jahrhundertelangen Konstanten täuferischer Geschichte gezählt haben.

Eine der aus dem Bernbiet stammenden täuferischen Familien, deren Fluchtwege sie vom Emmental über den Jura ins Elsass, in die Pfalz und in den Kraichgau und von dort nach Nordamerika geführt haben, sind die Liechti.

Mehr noch als bei manch anderen Familien sind in heiklen Zeiten immer wieder einige weiter gezogen, währenddem andere geblieben sind. Das führte dazu, dass es heute sowohl in schweizerischen Mennonitengemeinden noch Liechtis gibt, als auch in Deutschland zahlreiche Lichtis und in Nordamerika noch zahlreichere Leichty, Leighty oder Liechty.

Wie meistens, so sind auch für die täuferischen Anfänge dieser Familien die Zusammenhänge komplizierter, als einem bisweilen lieb ist. Den Familiennamen Liechti findet man nämlich bereits im 17. Jahrhundert im Bernbiet an verschiedenen Orten, so etwa in Oberdiessbach, in Hasle bei Burgdorf, in Rüderswil, in Trachselwald, in Landiswil und Biglen sowie in Signau und im Eggiwil.

Die reformierte Kirche von Eggiwil

Die reformierte Kirche von Eggiwil

In manchen der genannten Orte gab es Personen aus Liechti-Familien mit Bezügen zum Täufertum. Der früheste täuferische Liechti in meiner eigenen Datenbank ist ein Hans Liechti aus Oberdiessbach, der in Akten aus den 1550er Jahren auftaucht. Längerfristig bedeutsam scheinen bei den täuferisch-mennonitischen Liechtis aber vor allem zwei bzw. drei Stammlinien zu sein: Eine aus dem Eggiwil und eine aus der Kirchgemeinde Biglen, wobei bei letzterer die eine Unterlinie Biglen als Heimatort angibt, die andere Landiswil (was ebenfalls zur Kirchgemeinde Biglen gehört).

Reformierte Kirche in Biglen

Reformierte Kirche in Biglen

Bereits in den 1670er Jahren sind etliche Liechtis in die Pfalz und in den Kraichgau geflüchtet. Später haben sich zahlreiche Liechtis im Fürstbistum auf den Jurahöhen niedergelassen, zuerst auf der Chasseralkette und später vor allem im Raum Moutier: Es sind Angehörige sowohl der Eggiwil- als auch der Biglen- und Landiswil-Linie.

Welches die jeweiligen „Stammhöfe“ der einzelnen Linien sind, ist noch nicht restlos geklärt. Einer der kaum bekannten möglichen Stammhöfe ist der Chratzme, südwestlich von Landiswil, wo 1671 ein Täufer Ueli Liechti in den Akten wiederholt als besonders widerspenstig bezeichnet wird und in der Folge mit seiner Familie ebenfalls die Heimat verlassen muss.

(Die obige Foto zeigt einen der beiden Höfe)

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«Presumably of Swiss Origin» – Zur Geschichte der täuferischen Horsch-Familien

Es ist bekannt, dass viele süddeutsche Mennonitenfamilien ihre Wurzeln in der Schweiz haben. Namentlich die im 30jährigen Krieg (1618–1648) verwüsteten Regionen der Pfalz und des Kraichgau waren bevorzugte Destinationen der aus der Schweiz geflüchteten und ausgeschafften Täuferinnen und Täufer.

Für manche Familien sind die Herkunftsorte seit langem bekannt, von anderen sind sie bis heute im Dunkeln geblieben. Hoffnungslos ist die Suche nach Verbindungen pfälzischer oder kraichgauischer Familien in die Schweiz aber keineswegs.

Eine solche Familie sind die im süddeutschen Raum weit verbreiteten Horsch. Die Mennonite Encyclopedia äussert sich vorsichtig über deren Ursprünge: Ihre Wurzeln seien in Süddeutschland, und möglicherweise weiter zurück in der Schweiz: «presumably of Swiss origin». Konkreter wird das Lexikon allerdings wohlweislich nicht. Auch über mögliche Zusammenhänge mit den ebenfalls weit verbreiteten Familien Horst/Hurst schweigt sich das bekannte Standardwerk aus. Andere Quellen vermuten zwar bernische Ursprünge und konzentrieren sich in ihren Hypothesen meist auf das Schwarzenburgerland, bleiben schlüssige Belege aber schuldig.

Ein Protokolleintrag von 1705 bringt einen Joseph Horsch in Verbindung mit dem bernischen Burgdorf!

Ein Protokolleintrag von 1705 bringt einen Joseph Horsch in Verbindung mit dem bernischen Burgdorf!

Nun ist es in wenigstens einem Fall gelungen, den Nachweis effektiv bernischer Ursprünge dieser Familie zu erbringen. Die Spuren weisen in den Raum Burgdorf, und noch präziser ins Dorf Nieder-Ösch.

Der spannende Bericht über diese Entdeckung ist nachzulesen in der demnächst erscheinenden Ausgabe unseres Jahrbuches MENNONITICA HELVETICA 38 (2015). Der bezeichnende Titel des Beitrages lautet:

«Wahrscheinlich schweizerischen Ursprungs»

ZUR GESCHICHTE DER TÄUFERISCHEN HORSCH-FAMILIEN

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Von Amokläufen, Froschauerbibeln und amischen Täufern

Bilder von amischen Täufern in Nordamerika haben die meisten von uns schon gesehen. Im Zusammenhang mit einem Amoklauf an einer Schule der Amish* in Nickel Mines in Pennsylvania anno 2006 sind die Amish für einige Zeit weltweit in den Brennpunkt der Öffentlichkeit geraten. Im zeitlichen Umfeld des weltweiten militärischen Kampfes der USA gegen „die Mächte des Bösen“ nach „Nine-Eleven“ hat die Bereitschaft der Amischen, dem Todesschützen zu vergeben, der zuvor fünf ihrer Kinder ermordet hatte, enormes mediales Aufsehen erregt.

Dass die Gemeinschaft der amischen Täufer etwas mit der Schweiz zu tun hat, ist spätestens seit dann vielen Menschen bekannt.

Dass die letzten entscheidenden innertäuferischen Auseinandersetzungen, die 1693 zur Entstehung der Amischen geführt haben, im Emmental auf dem Weiler Fridersmatt bei Bowil stattgefunden haben, ist hingegen nur einigen wenigen Insidern bewusst.

Der Weiler Fridersmatt bei Bowil im Emmental (Foto C.Holenweg)

Der Weiler Fridersmatt bei Bowil im Emmental (Foto C.Holenweg)

Und noch viel weniger wissen, dass die grosse altehrwürdige Bibel der Täufergemeinde Fridersmatt, ein Zürcher Froschauer-Druck aus dem Jahr 1536, heute in der Dokumentationsstelle  des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte auf dem Bienenberg aufbewahrt wird.

Die Froschauer-Bibel der Täufergemeinde Fridersmatt

Die Froschauer-Bibel der Täufergemeinde Fridersmatt

 

Zwei Besitzereinträge geben Einblick in die lange Geschichte des Buches:

Diese bible gehört der gemeind fridersmat. Diese biblen übergiben ÿch Chriβten Tschantz der ana Zolner das sie sollen sorg haben dorzue. Geschen den 24 Thag Heümonat 1759 Jahr. Diese bibell hab ich Nachmallβ Erduschett hab ein taler dafür bezallt Christen Haueder

Diese bible gehört der gemein fridersmat. Diese biblen übergiben ÿch Chriβten Tschantz der ana Zolner das Sie sollen Sorg haben dorzue. Geschen den 24 Thag Heümonat 1759 Jahr.
[Andere Schrift:] Diese bibell hab ich Nachmallβ Erduschett hab ein taler dafür bezallt
Christen Haueder

Die nicht-amische Gemeinde Fridersmatt ist im Verlauf des 18. Jahrhunderts infolge von Repression und Auswanderung vor allem in den Jura zwar erloschen. Die „Fridersmatt-Bibel“ gibt es aber noch heute.

Grund genug puttygen download , bei Gelegenheit im Baselbiet mal Halt zu machen, und sich dieses Prachtsstück anzusehen.

* Aussprache ist übrigens [‚aːmɪʃ] und nicht, wie man’s so oft hört [‚eɪmɪʃ] !

 

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Mitgliederversammlung 2015 – Assemblée générale 2015

jura_wienDer Wiener Kongress von 1815 war nicht nur ein Schlüsselereignis der europäischen Geschichte, er hatte auch grosse Bedeutung für die Schweiz und namentlich für die Neuordnung des Territoriums des ehemaligen Fürstbistums Basel im Jura. Dies wiederum tangierte die Präsenz des Täufertums im Jura in grossem Umfang. Grund genug, unsere nächste Mitgliederversammlung dem 200-jährigen Jubiläum dieses Ereignisses zu widmen. Damien Bregnard ist Archivar am Archiv des ehemaligen Fürstbistums Basel in Pruntrut.

wiener kongressLe congrès de Vienne de 1815 ne représente pas seulement une date clé dans l’histoire européenne, il a aussi une signification particulière pour la Suisse et plus spécialement pour la réorganisation du territoire de l’ancien Évêché de Bâle. Cet événement a aussi touché de différentes manières les anabaptistes qui avaient trouvé refuge dans cette région. Voilà une raison suffisante de consacrer notre prochaine Assemblée générale à cette tranche d’histoire. M. Damien Bregnard est archiviste adjoint des Archives de l’ancien Évêché de Bâle à Porrentruy.

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Prävention und Wiederaufbau – Bendicht Brechtbühl zum Zweiten

P1040876Dieser Tage hatte ich Gelegenheit, nach meinen Arbeiten zu Leben und Werk von Bendicht Brechtbühl in der Schweiz und im weiteren Europa nun auch den Ort zu besuchen, an dem dieser aus dem Emmental stammende und später in den Krauchgau gezogene Täuferlehrer  seine letzten Lebensjahre von 1717 bis 1720 verbrachte: Den kleinen Flecken Strasburg im Lancaster County / Pennsylvania (Foto oben).

Wer durch die derzeit üppig grüne Landschaft fährt, mit all seinen Mais-, Tabak- und Bohnenfeldern, vorbei an Versammlungshäusern von Dutzenden verschiedener kirchlicher Richtungen innerhalb des täuferisch-mennonitisch-amischen-brethreninchrist-Spektrums mit seinen teils feinst ausdifferenzierten theologischen und gemeindepraktischen Nuancen, die irgendeinmal kirchentrennend wurden, der ahnt um das jahrhundertelange Ringen innerhalb dieser Gemeinden um das, was sie als „den rechten Weg des Glaubens“ bezeichneten.

Und angesichts dieser meist mit erheblichen Schmerzen verbundenen „Ausdifferenzierung“ der kirchlichen Landschaft in der Vergangenheit kommt man fast nicht umhin, sich auch für die aktuellen kirchlichen (und nicht-kirchlichen) Debatten der Gegenwart das Vorhandensein von Persönlichkeiten wie Bendicht Brechtbühl zu wünschen, die als „Brückenbauer und Grenzüberschreiter“ einen eminent wichtigen Beitrag zu Versöhnung und einem geschwisterlichen Miteinander geleistet haben (vgl. meinen Beitrag in MH 36, jetzt auch in englischer Übersetzung in MQR July 2015).

Und geradezu bezeichnend ist es, wenn ein handschriftlicher Beitrag in einer alten Froschauerbibel in der Muddy Creek Farm Library in Ephrata festhält, dass das offenbar defekte Buch von seinem Besitzer just dem Bendicht Brechtbühl gegeben werden soll, dass er es repariere, beziehungsweise die fehlenden oder unlesbar gewordenen Seiten  neu schreibe (cf. nachfolgendes Foto).

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Vorbeugen, damit es gar nicht erst zum Crash kommt und Reparieren, wo doch etwas in die Brüche gegangen ist – wie bezeichnend sind doch diese beiden Akzente bei Bendicht Brechtbühl. Prävention und Wiederaufbau als die zwei Seiten der Versöhnungstätigkeit Brechtbühls – besser könnte friedenskirchliche Präsenz auch in den Herausforderungen der Gegenwart (in und ausserhalb der eigenen Gemeinden und Konferenzen) kaum zusammengefasst werden!

Eine andere Frage, die aber m.E. erst noch erforscht werden müsste: Inwiefern haben solche auf Gerechtigkeit und Versöhnung sensibilisierten Täuferinnen und Täufer wie Brechtbühl bemerkt, dass sie als Siedler in Pennsylvania Land kauften, das andern (den First Nations Peoples) unter meist dubiosen Umständen weggenommen worden ist? Wie konnte es kommen, dass dieselben Personen, denen kurz zuvor in der Schweiz oft der gesamte Besitz enteignet wurde, nun ihrerseits – vielleicht ohne es zu bemerken – an einem System partizipieten, das massgeblich auf der Enteignung anderer basierte?

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Täufergeschichtliche Schleuderkurse Oder: Die Geschichte des Täuferlehrers Christian Güngerich von Aeschlen bei Oberdiessbach

Weiler Unter Hus_ mit Strassenschild

Eigentlich macht die abgebildete Hinweistafel auf Schleudergefahr wenig Sinn. Sie steht an einem schmalen Fahrsträsschen, das zum Weiler Underhus bei Aeschlen / Oberdiessbach führt, der im Hintergrund sichtbar ist. Wer den abgelegenen Ort nicht kennt, wird bei diesem engen Weg hangaufwärts kaum zu schnell fahren. Und alle andern lassen sich auch durch dieses Schild nicht davon abhalten…

Die Hinweistafel ist aber eine hübsche Erinnerung an eine etwas andere  Art von Schleudern.

Täufergeschichtliche Nachforschungen stossen nämlich immer wieder auf Einzelfakten, die zwar auf spannende Vorgänge deuten, aber in ihrer Bruchstückhaftigkeit doch vieles offen lassen. Und da droht manchmal die Gefahr, dass man zu spekulieren anfängt. Plötzlich werden Vermutungen zu Gewissheiten, wenn man sie nur lange genug wiederholt.

Solche Schleudergefahr besteht auch im Zusammenhang mit dem abgebildeten Weiler Underhus. Hier wohnte bis in die 1660er Jahre ein Täuferlehrer namens Christian Güngerich. Als er um 1670 herum inhaftiert wird und später in Bern im Gefängnis stirbt, kommt es in der Folge zu jahrelangen Debatten um seinen umfangreichen Besitz. Clevere Verwandte und Bekannte wollten nämlich noch vor der obrigkeitlichen Konfiskation möglichst viel davon auf teils abenteuerliche Weise sichern. Dass Behörden und missgünstige Nachbarn hier etwas dagegen hatten, ist klar – und sorgte für einen kontinuierlich anwachsenden Aktenberg…

Eines der Dokumente zum "Güngerichischen Teüfferguth", ein Brief von Pfarrer Abraham Fueter von 1680 (Kirchgemeindearchiv Ober-Diessbach)

Eines der Dokumente zum „Güngerichischen Teüfferguth“, ein Brief von Pfarrer Abraham Fueter von 1680 (Kirchgemeindearchiv Ober-Diessbach)

Zwar wissen wir mittlerweile genug, um dazu einen mehrseitigen Artikel zu schreiben, der Einblick in spannende Zusammenhänge der bernischen Täuferpolitik jener Zeit zu vermitteln vermag. Die Publikation dieses Beitrages ist geplant für die Nummer 38 (2015) unseres Jahrbuches Mennonitica Helvetica.

Anderseits bleiben auch viele Fragen offen. Insbesondere bleibt die Geschichte der bernischen Wurzeln der heute in mennonitischen und amischen Kreisen weit verbreiteten Familie Güngerich-Gingerich-Gingrich sehr komplex. Klar ist, DASS die Ursprünge der meisten, wenn nicht sogar aller täuferischen Güngerich im Grossraum Thun (Oberdiessbach-Steffisburg-Schwarzenegg) liegen. Wer aber wo und wie mit wem genau verwandt ist, und welche Geschichten sich im Detail dahinter verbergen, das bleibt in manchem ungeklärt.

Und hier droht Schleudergefahr: wer diese offenen Fragen nicht aushält und aus Hypothesen vorschnell Beweise macht, kommt unweigerlich ins Schleudern…!

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Bendicht Schrag (1767-1843) und der Hof Ostenberg bei Liestal

Besitzereintrag des Bendicht Schrag in seiner Kopie des Märtyrer-Spiegel (Pirmasens 1780): Das Buch befindet sich heute in der Heritage Historical Library in Aylmer / Ontario.

Besitzereintrag des Bendicht Schrag in seiner Kopie des Märtyrer-Spiegel (Pirmasens 1780): Das Buch befindet sich heute in der Heritage Historical Library in Aylmer / Ontario (Kanada).

Bendicht Schrag (1767–1843) aus Wynigen bei Burgdorf (Bern) war eine der zentralen Figuren im Rahmen der umfangreichen Migration schweizerischer Täufer nach Nordamerika im 19. Jahrhundert.

Vor seiner Auswanderung nach Ohio lebte er einige Jahre lang mit seiner Familie bei Moutier im Jura, wohin bereits seine Vorfahren geflohen waren. Später zog er ins Baselbiet, wo er nach Jahrhunderten der Repression anno 1801 wohl als erster Täufer einen Bauernhof nicht nur pachtete, sondern einen solchen trotz obrigkeitlicher Irritationen kaufen konnte. Dabei ging es um den Hof Ostenberg bei Liestal. Dieses bereits im 19. Jahrhundert abgegangene kleine Bauerngütchen verschwand in der Folge allerdings von allen Landkarten und liegt heute inmitten eines grossen Waldgebietes auf einem Hügelrücken westlich des Städtchens Liestal. Sein genauer Standort wurde unlängst wieder entdeckt.

Die bisher kaum bekannte Geschichte Bendicht Schrags (nordamerikanisch auch Schrock oder Shrock) und des Hofes Ostenberg wird in der neusten Ausgabe von Mennonitica Helvetica ausführlich erzählt. Das Jahrbuch mit vielen weiteren interessanten Beiträgen erscheint demnächst. Es kann auch via diese Website bestellt werden!

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Vor 400 Jahren… Hans Jakob Bolls Toleranzschrift „Christenlichs Bedencken“

Eines der der seltenen Exemplare der Schrift von Hans Jakob Boll befindet sich in der Schweizerischen Landesbibliothek in Bern unter der Signatur L Theol. 789 - 14

Eines der der seltenen Exemplare der Schrift von Hans Jakob Boll befindet sich in der Schweizerischen Landesbibliothek in Bern unter der Signatur L Theol. 789 – 14

Als am 29. September 1614 die reformierte Stadt Zürich den einheimischen Täuferlehrer Hans Landis hinrichtete PuTTY , da ging durch einen Teil der diplomatischen und kirchlichen Öffentlichkeit in Europa (vor allem in den Niederlanden) ein Sturm der Entrüstung.

Gleichzeitig bereitete ein phasenweise der schweizerischen Täuferbewegung nahestehender Autor namens Hans Jakob Boll aus Stein am Rhein eine Protest-Schrift für den Druck vor. Er tat dabei nichts anderes, als Passagen aus frühen Texten von Luther und Zwingli und anderen evangelischen Gelehrten zusammen zu stellen, in denen diese sich gegen eine Verfolgung wegen Glaubensfragen aussprachen. Bloss Vorwort und Nachwort sind seine eigenen Worte in diesem Schriftchen mit dem folgenden Titel:

„Christenlichs Bedencken, ob einem Evangelischen Christen gebühre, jemanden umb dess Glaubens willen zu verfolgen.“

In diesen Tagen jährt sich diese Publikation zum 400. Mal: Das Vorwort des Traktates ist nämlich datiert auf den 12. März 1615 auf einem Hof namens Unterrieden. (Vielleicht identisch mit dem Weiler Unterriedern bei Steffisburg? Nachtrag: Laut neuesten Erkenntnissen aufgrund der Forschungen von Roland Senn liegt der Hof „Unterrieden“ zweifelsfrei nördlich von Zofingen wohl unweit von „Finsterthülen“)

Einem Freund stellt Boll wenig später eine Kopie des in Basel gedruckten Büchleins mit folgenden Worten zu:

„Demnach schicke ich dir ein Büchlein, welches ich habe drucken lassen, weil die Zürcher jetzt so unruhig wider die [täuferische] Bruderschaft sind mit Verfolgen, ich habe es aus den Schriften ihrer eigenen Gelehrten zusammengestellt – Was die Vorrede und den Beschluß antrifft, so will ich diese mit Gottes Hilfe [selber] verantworten, wenn Ich darum solte gerechtfertiget [=zur Rechenschaft gezogen] werden. Ich schicke es dir also in guter Meinung, da ich glaube, es werde dir nicht übel gefallen. Und dies darum, weil ich mich bemüht habe, ihre [eigenen] Bücher zu durchsuchen, und ihnen die Aussagen in eine [richtige] Ordnung zusammen zu setzen, also dass sie mit ihren eigenen „ußzuckten“ Schwertern geschlagen, und die Bogen, so sie auf andere gespannt haben, nun sie selber treffen werden.“

In der Tat wurde unmittelbar nach Drucklegung der anonym bleiben wollende Autor Boll im bernischen Zofingen ausfindig gemacht, er wurde von seiner Obrigkeit zur Rechenschaft gezogen und inhaftiert.

Nur wenige Exemplare seines Traktates haben die anschliessende Bücher-Vernichtungsaktion der Berner Regierung überlebt. Aber Bolls 400 Jahre alter Text von 1615 bleibt ein wichtiger Zeuge des Ringens um Glaubens- und Gewissensfreiheit in der Schweiz.

Zu den Hintergründen der Geschichte von Hans Jakob Boll vgl. meine Ausführungen in „Ketzer-Rebellen-Heilige. Das Basler Täufertum von 1580-1700“. Unser Jahrbuch MENNONITICA HELVETICA plant für 2015 ein Update dieser spannenden Zusammenhänge!

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Chorgründung mitten im Weltkrieg

Chor der Altevangelischen Taufgesinnten-Gemeinde Schänzli in Muttenz bei Basel, um 1920. In der Mitte des Bildes der Dirigent Samuel Nussbaumer (1866-1944).

Chor der Altevangelischen Taufgesinnten-Gemeinde Schänzli in Muttenz bei Basel, um 1920. In der Mitte des Bildes der Dirigent Samuel Nussbaumer (1866-1944).

In einem Protokollbuch der Basler Holeegemeinde findet sich zum Jahr 1914 der folgende Eintrag:

„Man ahnte nicht, dass am 19. Juli die Sänger sich für lange Zeit das letzte Mal trafen – Krieg zog in die Lande – viele Brüder mussten einrücken*.“

Da geschichtlich bedingt viele Mitglieder der ursprünglich amischen Holeegemeinde in der elsässischen und südbadischen Nachbarschaft wohnten, war sie in besonderer Weise vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges tangiert. Das bekam offenbar auch der 1897 gegründete „Gesangverein der Mennoniten-Gemeinde Basel“ zu spüren.

Interessanterweise wurde aber in der benachbarten Schänzli-Gemeinde in Muttenz, die ebenfalls einige Mitglieder im grenznahen Ausland hatte, im Kriegsjahr 1915 just ein solcher Chor gegründet.

Dieses Jahr begeht dieser Chor sein 100jähriges Jubiläum. Es ist geplant, auch seine Geschichte etwas näher zu untersuchen. Man darf gespannt sein, was dabei alles zum Vorschein kommt – vor allem auch über die Beweggründe zu seiner Entstehung inmitten der Zeit des Ersten Weltkrieges.

Eine der ältesten Fotos des Chores dürfte die obenstehende Aufnahme sein. Sie ist undatiert, stammt aber wohl aus der Zeit um 1920. Eine später erstellte Legende nennt die Namen der abgebildeteten Sängerinnen und Sänger. Die fast ausschliesslich bernischen Heimatorte sind bezeichnend für die Herkunft der Gemeindeglieder, deren Vorfahren meist im 17. und 18. Jahrhundert ihre Heimat verlassen mussten, und die nun – meist auf Umwegen via den Jura oder das grenznahe Frankreich – in die Region Basel gekommen waren und hier in der Regel grössere und kleinere Bauernhöfe bewirtschafteten: Die Amstutz aus Sigriswil, die Oberli aus Lützelflüh, die Moser aus Rüderswil oder Landiswil, die Gyger aus Eriz, die Gerber aus Langnau, die Graber aus Huttwil, die Geiser aus Langenthal oder die Nussbaumer aus Lüterkofen/SO, aber ursprünglich ebenfalls aus dem Bernbiet, nämlich aus Gross-Höchstetten. Aus der letztgenannten Familie stammt auch der Dirigent zur Zeit der Aufnahme. Es ist der aus dem Jura ins Baselbiet zugezogene Samuel Nussbaumer (1866-1944), gleichzeitig auch Prediger und Ältester der Gemeinde sowie späterer Präsident der Altevangelischen Taufgesinnten-Gemeinden (Mennoniten) der Schweiz und erster mennonitischer Landrat des Kantons.

* Zur Geschichte des weitgehenden Verlustes der täuferischen Gewaltverzichtsposition bei europäischen Mennoniten vgl. den Blogbeitrag zu Pierre Kennel und zum Ersten Weltkrieg bzw. die Ausführungen in „Glaube und Tradition in der Bewährungsprobe„.

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