ANSTOSSGÄSSCHEN BEIM PFAFFENKELLER
Zwei Strassenschilder in der süddeutschen Stadt Augsburg haben es in sich.
Bekanntlich war der unverteilte Reichtum seitens mancher bloss auf’s eigene Wohlergehen fokussierter PFAFFEN und Kleriker inmitten grösster Armut mit ein Auslöser für das Zeitalter der Reformation im 16. Jahrhundert. ANSTOSS erregten aber nicht nur die PFAFFEN mit ihren prall gefüllten WeinKELLERn und Kornkammern. ANSTOSS erregte innerhalb der seit 1520 fortschreitenden reformatorischen Erneuerungsbewegungen um Martin Luther und Ulrich Zwingli auch deren sogenannter «Linker Flügel», zu dem auch das Täufertum zählte.
Letzteres setzte sich ein für eine radikalere Transformation von Kirche und Gesellschaft, aber auch von individuellem und gemeinschaftlichem Leben. Täuferinnen und Täufer sprachen sich für Freiwilligkeit von Glaube und Kirchenmitgliedschaft aus, für Frieden und Versöhnung und gegen Kriegsdienst und Todesstrafe.
Auch das erregte ANSTOSS – weit über die alt- und neugläubigen PfaffenKELLER und Ratsstuben in katholischen, lutheranischen und zwinglianisch-reformierten Territorien hinaus. Es führte zu jahrhundertelanger Repression und Verfolgung. Um so spannender ist es, just im Falle von Augsburg Beispiele zu haben, wo Menschen mit täuferischen Überzeugungen in einer andersgläubigen Gesellschaft nicht nur im Untergrund knapp überlebt haben, sondern bei der Mitgestaltung dieser Gesellschaft wesentliche Beiträge leisteten.
E i n solches Beispiel soll im Zusammenhang mit einem aktuellen UNESCO-Weltkulturerbe-Entscheid vorgestellt werden.
Am 07.07.2019 stimmte das Weltkulturerbekomitee der UNESCO für den Antrag der süddeutschen Stadt Augsburg auf Anerkennung ihrer historischen Wasserwirtschaft als Weltkulturerbe. Seit einigen Wochen wird dieses Ereignis auch in schweizerischen Medien gebührend gewürdigt (vgl. etwa die Zeitschrift DOPPELPUNKT).
Nicht immer wird dabei deutlich, dass beim Ausbau der Wasserwirtschaft in Augsburg im 16. Jahrhundert ein Mitglied der europaweit verfolgten Täuferbewegung eine wesentliche Rolle gespielt hat: Der vom Bergbau herkommende „Ingenieur“ und Täufertheologe Pilgram Marpeck (1495-1556). Aufgrund seiner offenbar ausserordentlichen Fähigkeiten und Kompetenzen im Bereich der frühneuzeitlichen Wasser- und Holzwirtschaft hatte Marpeck in manchen grösseren Städten wie Strassburg und Augsburg wichtige Positionen bekleidet – obwohl seine täuferische Gesinnung bekannt war. Sein Einsatz nach dem jeremianischen Motto „Suchet der Stadt Bestes“ ist eine eindrückliche Illustration dafür, dass auch radikale, nonkonformistische Glaubensüberzeugungen in einer Gesellschaft durchaus nicht automatisch immer verfolgt werden. Vielmehr werden sie vor allem dann bisweilen durchaus toleriert, ja sogar geschätzt, wenn sie Lösungen auf aktuelle Probleme und Herausforderungen eines Gemeinwesens anbieten, die sonst niemand oder niemand so gut und nachhaltig zu liefern vermag.
Genau dieser von Marpeck praktizierte „Mittelweg“ zwischen totaler Separation und völliger Assimilation macht aus ihm einen der attraktivsten täuferischen Theologen und Denker des 16. Jahrhunderts. Seine Positionen beinhalten interessante Denkanstösse zu hochaktuell gebliebenen Fragen wie die nach dem Umgang von Minderheiten und Mehrheiten, oder dem Verhältnis von Einheit und Vielfalt in einer multikulturellen Gesellschaft.
Weitere Hintergründe zu Marpecks Beitrag zur Wasserversorgung in Augsburg HIER – und mehr zu Leben und Werk dieses faszinierenden Täufertheologen HIER.