Im Umfeld von älterem Täufertum und frühem Pietismus kommt es um 1700 europaweit zu einer Reihe von neuartigen, für die Zeitgenossen vorerst nur kaum einzuordnenden Formen kirchlichen und gesellschaftlichen Aufbruchs und Protestes. Auch in der Schweiz manifestiert sich dieser Aufbruch in zahlreichen, namentlich traditionell protestantischen Regionen wie Zürich, Bern und Schaffhausen.
Im Baselbiet verfügt diese Bewegung in der Person des Frenkendörfers Andreas Boni (geb. 1673-1741) schon früh über eine zentrale Gestalt aus dem Bereich des zeitgenössischen religiösen Nonkonformismus. Boni wird 1708 in Schwarzenau bei Bad Berleburg in Westfalen zu einem der Mitbegründer der «Schwarzenauer Täufer», der heutigen Church of the Brethren, die neben Mennoniten und Quäkern zu den «Historischen Friedenskirchen» zählt. Vgl. dazu den Blog «Was Frenkendorf und Turin mit Boko Haram und Täufergeschichte zu tun haben».
Nach Boni sind es andere, von der Obrigkeit als «Fanatiker, Separatisten und Sektierer» gescholtene Personen, die im Baselbiet für alternative Modelle von Glaube und Kirche aktiv sind. Einer davon ist Hans Martin (1688-1736?) aus Pratteln, der im Rahmen seiner Tätigkeit als zwischen Täufertum und Radikalpietismus anzusiedelnder Wanderprediger und Laienevangelist seit 1720 quer durch die Lande zieht. Mal taucht er in der Nähe der Stadt Basel auf, mal im oberen Baselbiet auf dem Bölchen, mal hält er im emmentalischen Trub eine erweckliche Versammlung, mal auf dem Chasseral, mal wohnt er mit Frau und Familie auf dem Mont Soleil im Jura in enger Nachbarschaft zu dorthin geflüchteten Berner Täufern, mal versucht er im neuenburgischen Val-de-Ruz Fuss zu fassen. Für kurze Zeit versucht er auch mit der Hilfe niederländischer Doopsgezinden im friesländischen Groningen eine Bleibe zu finden, bevor er schliesslich wie so viele andere religiöse Nonkonformisten in Nordamerika sein Heil sucht. [Vgl. dazu Hanspeter Jecker, Grenzüberschreitungen – Der Fall des Hans Martin und der Anna Hodel von Pratteln (1719ff.) in Mennonitica Helvetica 24/25(2001/2002), (: 177-187).]
Der Same religiöser Unrast und Sehnsucht, der durch diese «Laienverkündiger» quer durch die Lande ausgestreut wird, geht dann und wann auf.
So weigern sich im Frühsommer 1722 acht Männer in Muttenz bei Basel, anlässlich einer Musterung die Waffe zu ergreifen. Sie gehören zu einem Kreis von Personen, die offensichtlich von Leuten wie Hans Martin geprägt worden sind, die sich in Berufung auf Jesus und das Neue Testament immer wieder kritisch zum Waffen- und Kriegsdienst ausgesprochen hatten. Anlässlich eines Verhörs auf Schloss Münchenstein bezeichnet Leutnant Fritschi diese als «Pietisten von Muttenz» beschriebene Gruppe als «faule Buben» (Staatsarchiv Basel-Stadt Criminalia 1 A, P 7). Einer der Angeklagten, Hans Jakob Pfau, kontert diesen Vorwurf, indem er nun seinerseits seinen vornehmen Kontrahenden ebenfalls als «faulen Buben» tituliert. Als die Obrigkeit darauf ihre Muskeln spielen lässt und mit schwerwiegenden Konsequenzen und Strafen droht, geben die meisten Angeklagten zwar klein bei und versprechen Gehorsam. Aber die folgenden Jahre zeigen, dass die religiöse Unrast damit nicht vom Tisch ist. Und immer wieder geben noch Jahre später Männer und Frauen zu Protokoll, welche Rolle Hans Martin in ihrem Leben gespielt habe: „Vorhin sey ihnen nicht in Wüssen gewesen, wie man zu Unserem Jesu kommen solle, aber eben des durch Ihn den Bratteler [=Hans Martin] erfahren und der hab sie den rechten Weg zur Seligkeit gelehrt!“
Vor einiger Zeit bin ich von einem nordamerikanischen Pastor kontaktiert worden, der in einer Church of the Brethren-Gemeinde in North Carolina gearbeitet hat, die 1772 von einem Baselbieter gegründet worden sei, einem Jacob Faw (1723- ca.1790) aus Biel-Benken. Effektiv gelang es, die Geburt dieses Mannes in den Kirchenbüchern von Biel-Benken nachzuweisen: Hier war für den 3. Oktober 1723 tatsächlich die Taufe eines Jakob, Sohn des Hans Pfau dem Schmied und der Barbara Spaar eingetragen, auf den all das zutraf, was man sonst von diesem späteren Nordamerika-Auswanderer noch wusste (Staatsarchiv Basel-Landschaft, Kirchenbuch Biel-Benken 3, 18).
Offenbar war einfach dessen Name von Pfau zu Faw mutiert. Allerdings ging aus keinen Akten, die ich zu dieser Person ausfindig machen konnte, irgend etwas hervor, was auf religiösen Nonkonformismus schliessen liess. Keine Kontakte zu Täufern und Mennoniten, keine Präsenz in pietistischen oder separatistischen Konventikeln – weder bei ihm, noch bei seinen Eltern oder Geschwistern.
Einzig an einer kleinen unscheinbaren Stelle horchte ich auf: Bei seiner Taufe in Biel-Benken war ein (Hans) Jakob Pfau aus Muttenz Götti (=Pate)! Es war höchstwahrscheinlich genau derjenige (Hans) Jakob Pfau, der sich – wie oben geschildert! – einige Monate zuvor in Muttenz als «Pietist» geoutet hatte. Das ist zwar kein Beweis, aber doch ein Indiz dafür, dass möglicherweise dieser Pate bei seinem Göttikind den Samen gesät hatte, der später – vielleicht erst in neuer Umgebung in Nordamerika – mit seiner Hinwendung zu den Schwarzenauer Täufern aufging.
Feststeht jedenfalls, dass der Sattler Jakob Pfau im Herbst 1749 mit seiner Frau Catharina Dyssly und Kindern (KB Biel-Benken 3, 392) Biel-Benken verlässt und sich nach einer schwierigen Überfahrt vorerst in Frederickstown (Maryland) im Shenandoah Valley (heute Winchester) niederlässt (SCHELBERT/RAPPOLT 1977, 136.431). Denn, so schreibt er in einem Brief vom 17. September 1750 an seine Verwandten in der Schweiz, „ihm Pänßelfania iß aleß besätz“ (= in Pennsylvania ist alles besetzt). Nach dem Tod seiner Frau verheiratet sich Jakob Pfau ein zweites Mal – erneut mit einer Biel-Benkemerin, Anna Magdalena Jundt. Später zieht er nach North Carolina weiter, wo er 1772 bei Winston-Salem die Fraternity Church gründet, die er und seine Nachkommen während mehrerer Generationen massgeblich mitprägen.