Nicht nur die schweizerische Öffentlichkeit staunt über das internationale Ausmass der Spionage-Affäre, die im Umfeld der Zuger Dechiffrier-Firma Crypto in diesen Tagen aufgedeckt worden ist. Wegen der offenbar grossen Auswirkungen der Affäre auf die Weltpolitik der letzten Jahrzehnte müssten nun sogar – so einige Schweizer Medien wie der «Tagesanzeiger» – bald die «Geschichtsbücher auf der ganzen Welt angepasst» werden.
Involviert in diese Affäre sind massgeblich die US-amerikanische CIA und der deutsche Bundesnachrichtendienst BND – aber offensichtlich gab es auch bei Schweizer Behörden Mitwissende. Bei entsprechenden Recherchen kam nun zum Vorschein, dass prompt auch ein zentrales Dossier im schweizerischen Bundesarchiv offenbar spurlos verschwunden ist. Es handelt sich dabei um frühere Untersuchungsakten der Bundespolizei zum Fall Crypto.
Beim Stichwort «Verschwundene Akten» in delikaten Angelegenheiten juckt es den Täufergeschichts-Historiker natürlich, auf schweizerische Parallelen hinzuweisen. Und Zufall oder nicht: Auch dabei geht es um das mittlerweile zur Hauptstadt dieses Landes aufgestiegene Bern.
Die leidvolle Geschichte des schweizerischen Täufertums mit politischen und kirchlichen Behörden ist in diesem Blog schon mehrfach vorgestellt und diskutiert worden. Und es ist bekannt, dass jede eingehendere Beschäftigung mit der Geschichte des bernischen Täufertums in der Phase seiner intensivsten Repression durch die Obrigkeit – also zwischen 1650 und 1750 – mit einer schwierigen Quellenlage konfrontiert ist. Ebenfalls bekannt ist es, dass Bern im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem religiösen Non-Konformismus auf eigenem Territorium im Verlauf des 17. Jahrhunderts spezielle Ministerien und Kommissionen geschaffen hat mit weitreichenden Vollmachten. Der Kampf gegen das Täufertum oblag dabei vollständig den «Committierten zum Teüffergeschäft», später auch als «Täuferkammer» bezeichnet. Einziger Auftrag dieses Ministeriums war es, das bernische Territorium «täuferfrei» zu machen. Manche sprechen dabei heute von versuchtem Ekklesiozid. Fast alle in diesem Zusammenhang bedeutsamen Akten wurden an die «Täuferkammer» weitergeleitet, viele wurden von ihr selbst erstellt und das allermeiste war hier in Original und Abschriften archiviert worden.
Wer diese schwierige Geschichte heute recherchieren will, ist konfrontiert mit einer wenigstens quantitativ noch viel umfangreicheren Lücke in den einschlägigen Aktenbeständen, als es heute bei der Crypto-Affäre der Fall ist.
Wir wissen heute, dass von den weit über 20 umfangreichen Manualen der bernischen Täuferkammer bloss die letzten vier im Staatsarchiv Bern erhalten sind (vgl. Foto oben). Sie tragen die Signaturen B III 190 bis B III 193 und stammen aus den vergleichsweise ruhigen Jahren 1721 bis 1743.
Sämtliche übrigen Protokollbände und die allermeisten weiteren Unterlagen dieser Kommission von ihrer Entstehung im Jahr 1659 bis ins Jahr 1721 sind jedoch verschollen und «spurlos verschwunden». Dass das Verschwinden dieser Dokumente mit teils höchst brisantem und kompromittierendem Inhalt möglicherweise nicht ganz zufällig erfolgt ist, liegt auf der Hand.
Nicht zuletzt darum, weil es dabei immer auch um viel Geld, um sehr viel Geld ging, das den Täuferinnen und Täufern jahrzehntelang konfisziert wurde und nicht selten in den privaten Taschen von bernischen Spitzenfunktionären landete.
Aber neben Geld ging es schlicht und einfach auch um himmelschreiendes Unrecht, das Menschen angetan und unermessliches Leid, das ihnen zugefügt worden ist.
Die Frage stellt sich effektiv: «Spurlos verschwunden» – oder vielleicht doch eher «spurlos verschwunden worden»?!
Verglichen mit all dem Unrecht und Leid, das möglicherweise auch im Zusammenhang mit der Crypto-Affäre anderen Menschen zugefügt beziehungsweise vertuscht worden ist, mögen die täufergeschichtlichen Ereignisse vergleichsweise «marginal» gewesen sein.
Aber selbst wenn heute bereits auch Stimmen auftauchen, die behaupten, dass durch die Crypto-Machenschaften möglicherweise auch etliches Leid verhindert werden konnte (was es erst noch zu beweisen gilt – und wobei es zu prüfen gilt, ob damit bloss eigenes Leid gemeint ist, auf Kosten des Leidens anderer…):
Das «Verschwinden von Akten» bleibt ein Fakt, der zum doppelt sorgfältigen Nachprüfen der betreffenden Ereignisse verpflichtet: Was soll hier möglicherweise vertuscht und verschwiegen werden, was es um der Gerechtigkeit und um der Würde und auch um der Werte der davon direkt betroffenen Menschen willen jetzt um so mehr zur Sprache zu bringen gilt?
Täufergeschichte ist ein ganz kleiner Bereich, wo das geschehen kann und weiterhin geschieht. Wie das auf eine Weise geschehen kann, die bis in die Gegenwart relevant ist und bleibt, ist weiterhin auch das Anliegen des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte. Und vielleicht kann ja hier auch am historischen Beispiel eingeübt werden, was in der aktuellen Gegenwart immer wieder angewandt werden muss…!