Werner Rysers historischer Roman «Das Ketzerweib» erzählt die Geschichte der Langnauer Täuferin Anna Jakob. Über die Gründe befragt, warum sie Täuferin geworden sei, sagt sie, dass sie hier „einen näheren Weg zum Himmel gefunden“habe. Um 1700 geriet diese couragierte Frau in die Mühlen der berüchtigten Berner «Täuferkammer», welche im Auftrag der reformierten Obrigkeit das eigene Territorium «täuferfrei» zu machen hatte und darum diese auf die Reformationszeit zurückgehende alternative kirchliche Bewegung buchstäblich bis auf’s Blut bekämpfte. (Nächste Lesungen des Autors aus dem Buch: Freitag, 20 Januar 2017, 19.30 Uhr, Murtenstrasse 50 in Biel und am Dienstag, dem 24. Januar 2017, 19.30 Uhr im Restaurant Bienenberg)
Was der Autor in seinem Buch schildert, wird durch ein aufschlussreiches zeitgenössisches Dokument gut illustriert. Es handelt sich um den Bericht des Langnauer Pfarrers Johann Jakob Wyttenbach (1681-1759) über seine Kirchgemeinde, den er im Auftrag der Berner Obrigkeit im Juli 1714 abgefasst hatte. Zum Einzugsbereich dieser Gemeinde hatte bis kurz zuvor auch noch Anna Jakob mit ihrem Mann Ueli Steiner gehört, bevor ihre Güter eingezogen und konfisziert wurden.
Nach einem Überblick über Grösse („524 Haushaltungen, Seelen aber von 6 Jahren an und drüber bey 2062“), Strukturen und Schulwesen in der Kirchgemeinde berichtet der Pfarrer auch über den Zustand des einheimischen Täufertums.
Ausschnitt des Briefes von Pfarrer Wyttenbach aus Langnau (Staatsarchiv Bern B III 122, 547)
„Das Täüfferthum betreffend kann ich nicht finden, daβ selbiges zeitwährend meinem dritthalbjährigen Dienst allhier habe zuogenommen und ein einiger seye zuo den Täüffern übergegangen. Sind aber wol noch eint und ander in der Gmeind, so schon vor disem dem Täüfferthum sind zuogethan gewesen und noch sind, wie auβ beyligender Liste zuosehen. Im übrigen ist den Täüfferen fast jedermann geneigt und werden nicht leichtlich von jemandem entdeckt und verrahten, ja wann sie einichen Lufft bekämen, wurde das letztere ärger als das erste.
Die Unerkanntnuβ [d.h. fehlende Schulbildung] kann wol beÿ den Einten etwas contribuiret haben, daβ sie zu den Taüfferen übergangen, doch ist gewüβ, daβ die Taüfferleüt eben nicht die unerkanntesten [ungebildetsten] sind, sondern viel in der Schrifft wol belesene [Personen] sind Täüfferisch worden wie an dem famosen Daniel Grimm[1] etc. zu sehen. Einiche sind also Täüfferisch, sonderlich Weibspersohnen, daβ sie sagen, wir könind in unserer Religion wol auch seelig werden. Werden sie aber befragt, ob sie dann nicht wider zu uns tretten wollind, so ist die letzte Antwort: Es mags nicht mehr ergeben. Und dann ist es auβdisputiret. Etwelche schiken ihre Kinder böser dingen in die Kinder lehr, wollen aber selbst nicht zu Kirchen gehen. Eine schlechte Kinderzucht ist beÿ den Taüfferleüten.
Gemeinlich halten die Täüfferleüt darfür, mann könne in allen Religionen seelig werden, welches ein verderblicher Irrthum ist und anzeigt, daβ, wann sich Verfolgung wurde erheben umb deβ Evangelij willen, sie nicht viel Bedenkens wurden machen, eine andre Religion anzunemmen, in Hoffnung sie könnten in derselbigen auch seelig werden.
Heterodoxe Bücher, als den Tennhardt[2] etc. habe ich gäntzlich keine finden [Randnotiz: noch verspühren] können, aber wol an eint und andren orten solche, die schon vor längst under den Täüffern waren, als den Thomas Druker[3], den Auβbund etc. doch versteken sie solche. Das N. Testament mit dem täüfferischen Stylo zuo Basel etc. gedrukt ist sehr gemein und wird solches für den Grundtext oder noch höher gehalten.[4]
Es wäre Hoffnung, daβ das Täüfferthum endlich abgehen wurde, wann die jetz bekannten Täüfferleüt, nicht nur die Manns- sonder auch die Weibspersohnen, nicht nur auβ dem Land verbannisiret, sondern auf ewig leidenlich incarceriret wurden, also daβ sie die ihrigen nicht mehr steiffen könnten, sonst ein wenig Saurteig den gantzen Teig versäuren könnte etc.“
So viel der Bericht des Langnauer Pfarrers. Aufschlussreich ist seine Bemerkung, wonach die Täuferinnen und Täufer sagen, dass man / frau (!) „in allen Religionen seelig werden“ könne. Es ist hier nicht der Ort darauf einzugehen, was dies konkret bedeuten könnte. Es eröffnet aber sicher die Perspektive, verschiedene Bekenntnisse nebeneinander stehen zu lassen, anstatt sich bis auf’s Blut zu bekämpfen… Und das war um 1700 immerhin ein fast schon ketzerischer Gedanke! Ob Anna Jakob auch dies gemeint hat, mit ihrem „näheren Weg zum Himmel“?!
Erläuternde Fussnoten:
[1] Daniel Grimm vom Gibel bei Langnau war wohlhabend, angesehen und gebildet und bekleidete das Amt eines Chorrichters in der reformierten Kirche. Kurz nach 1690 wurde er Täufer, worauf man sein umfangreiches Gut konfiszierte. Er wich ins Luzernische aus und wurde erst Ende 1709 wieder aufgegriffen. Bis zum Ende seines Lebens wechseln sich nun Gefängnisaufenthalte, Flucht, Untertauchen im Luzernischen und erneute Verhaftungen ab…
[2] Johannes Tennhardt (1661-1720), Perückenmacher und mystisch-visionärer Separatist, seit den 1680er Jahren in Nürnberg. Weite Verbreitung seiner autobiographische Schrift „Gott allein soll die Ehre sein“ (1710).
[3] Thomas von Imbroich, auch Drucker genannt (ca. 1533-1558), leitende Figur der Täuferbewegung im Rheinland und im Raum Köln. Seine Hauptwerke – ein Glaubensbekenntnis und sieben Sendschreiben – sind später neu publiziert worden im Sammelband „Güldene Aepffel in Silbern Schalen“ (1702). Kurze Auszüge finden sich auch im Märtyrerspiegel und im Liederbuch „Ausbund“.
[4] In Basel wurden – sehr zum Ärger Berns! – diverse der bei den Täufern sehr beliebten alten Froschauer-Bibeln nachgedruckt, so 1579, 1588, 1599, 1687 und 1702. Vgl. dazu Urs Leu, Die Froschauer-Bibeln und die Täufer, Herborn 2005.