SOLA SCRIPTURA ZWISCHEN FUNDAMENTALISMUS UND BELIEBIGKEIT

ANMERKUNGEN ZUM NEUEN ZWINGLI-FILM

Zum Jahrestag der ersten Erwachsenentaufen in Zürich am 21. Januar 1525

Chorherr Konrad Hofmann (Andrea Zogg): «Solch ein Stumpfsinn! Wollt Ihr jetzt mit dem hinterletzten Bauern über die Bibel disputieren?» (alle Fotos, wo nicht anders vermerkt: © C-Films AG)

In einem alten Strassburger Druck von 1530 – der «Chronica der Altenn Christlichen Kirchen» von Caspar Hedio – hat ein offensichtlich katholischer Besitzer und wohl noch ein Zeitgenosse von Luther und Zwingli quer durch das ganze Buch von eigener Hand Randkommentare angebracht. Darin kommt zum Ausdruck, wie er sich entsetzt und empört über das, was die Reformation ins Rollen gebracht hat.

Das Buch enthält unter anderem die Schilderung des griechischen Kirchenhistorikers Sozomenus ( gest. um 450) , wie Kaiser Valentinian (321-375) sich nicht in kirchlich-theologische Fragen einmischen wollte, da dies für ihn als Laie ausserhalb seiner Kompetenz und Befugnis liege: Solches sei Sache der Bischöfe und Priester.

Katholische Reformationskritik in Randglossen (Foto HPJ)

Lobend, und dann auch tadelnd vermerkt dazu der anonyme Randglossenschreiber: «Keiser will sich in geistlichen Sachen nit inmischen. Nota: Aber iezsunder will solches ein ieder Zeinenflicker anrüoren.»

Genau diese traditionell «altgläubige» Position kommt auch im neuen Zwingli-Film gut zum Ausdruck – auch wenn es schade ist, dass sie fast nur von unsympathisch gezeichneten Figuren artikuliert wird. Sowohl der umtriebige konservative Chorherr Konrad Hofmann (1454-1525) als auch der bischöfliche Generalvikar Johannes Faber (1478-1541) kritisieren, dass Zwingli die gesamte Zürcher Bevölkerung zum Lesen und Verstehen der Bibel animiert und dass der Zürcher Rat sich anmasst, in kirchlich-theologischen Fragen mitzureden und Entscheide zu fällen.

Dagegen wendet sich Zwingli an der Disputation von 1523 im Film mit den folgenden Worten an den Rat: «Meine Predigten sorgen für Unruhe. Ich bin bereit, alles zu hinterfragen. Auch mich selber. Messt meine Worte an der Heiligen Schrift – und nur an der Heiligen Schrift.»

Ulrich Zwingli (Max Simonischek) an der Ersten Zürcher Disputation 1523

Aufgrund biblischer Texte hat Zwingli in der Folge traditionelle katholische Lehren und Praktiken wie Fegefeuer, Ablasswesen, Heiligenverehrung, Zölibat oder Messe kritisiert und mit Hilfe der politischen Obrigkeit abgeschafft. Aufgrund biblischer Texte hat er aber auch soziale Not und Ungerechtigkeit angeprangert und neue innovative Mittel und Wege gefunden, um viele Misstände zu beheben. Und ebenfalls aufgrund biblischer Texte hat er seinen Predigtbesuchern einen Gott vorgestellt, der ihnen wohlwollend zugewandt ist, einen Gott, der vor allem anderen barmherzig und gnädig ist und auch dort liebt und Hoffnung spendet, wo Menschen scheitern und schuldig geworden sind.

Diese Botschaft sprach viele Frauen und Männer in Zürich an. Sie wollten selber die Bibel lesen, sie wollten selber verstehen, sie wollten sich selber eine Meinung bilden, und sie wollten selber mitdiskutieren und mitentscheiden, wenn es um die künftige Gestaltung von Kirche und Gesellschaft geht.

Dafür haben die altgläubigen Gegenspieler Zwinglis in Zürich nur Spott und Hohn übrig. Als Zwingli mit seinen Gefährten an der Bibelübersetzung für das Volk arbeitet, schleudert ihnen der Chorherr Konrad Hofmann entgegen: «Solch ein Stumpfsinn! Wollt Ihr jetzt mit dem hinterletzten Bauern über die Bibel disputieren?»

Noch sind sie einträchtig beisammen beim Übersetzen der Bibel: Zwingli und die späteren Täufer Grebel und Mantz

Es bleibt eine Tragik der Zürcher Reformation, dass die Weggemeinschaft derer, die sich vorerst begeistert und motiviert miteinander aufmachten, um zusammen die Bibel zu lesen und aufgrund des Gelesenen sowohl das eigene Leben als auch Kirche und Gesellschaft zum Besseren umzugestalten – dass diese Weggemeinschaft schon bald zerbrach. Aus den engagiertesten Mitarbeitenden Zwinglis wurden bald die von ihm und dem Rat als Ketzer, Rebellen und pharisäische Fanatiker gebrandmarkten Täuferinnen und Täufer. Schon Ende 1524 schrieb der Kreis um die späteren Täufer Konrad Grebel und Felix Mantz im Hinblick auf die Bibel: «Nachdem aber auch wir die Schrift zur Hand genommen und auf alle möglichen Punkte hin untersucht haben, sind wir eines Besseren belehrt worden.» Am 21. Januar 1525 war mit der ersten Erwachsenentaufe der Bruch mit Zwingli vollzogen, zwei Jahre später wurde Felix Mantz in der Limmat ertränkt…

Und dass Zwingli diese Hinrichtung “zunächst vergeblich zu verhindern versucht und schliesslich als Beschluss der Obrigkeit akzeptiert” habe, wie Peter Opitz (hist. Berater für den Film) in der WELTWOCHE schreibt, so ist das schwer nachvollziehbar. Wenn Zwingli noch ein paar Tage vor dieser Hinrichtung schreiben kann „Die Wiedertäufer, die endlich einmal den Geiern vorgeworfen werden sollten, stören bei uns den Frieden der Frommen. Aber ich glaube, dass die Axt dem Baum an die Wurzel gelegt ist.“ (ZSW IX, 8) , dann klingt das für mich nicht danach, dass da einer gross leidet und schweren Herzens den Beschluss der Obrigkeit akzeptiert…

Der Täufer Felix Mantz (Michael Finger) wird hingerichtet

Einig waren sich Zwingli und die Täufer darin, dass die Bibel Zeugnis ablegt von einem Gott, der die Menschen liebt und sie zu einem Leben einlädt, das sich von dieser Liebe umgestalten und prägen lässt, sie für andere sichtbar macht und sich für Friede und Gerechtigkeit in der Welt einsetzt. Wie und von wem die Bibel allerdings auszulegen sei, wie radikal und wie rasch das Erkannte umgesetzt werden sollte, wer diese Umsetzungen beschliessen und initiieren sollte, und wie mit unterwegs auftauchenden Meinungsunterschieden umzugehen sei – an der Uneinigkeit darüber zerbrach letztlich die Reformation, nicht nur in Zürich. Und von den Appellen des Humanisten Erasmus, der die Reformation massgeblich mitinitiiert hatte, und von dessen Ermahnungen zu Toleranz und Gewissensfreiheit, war ohnehin hüben wie drüben leider kaum noch etwas zu spüren…

Was den Stellenwert der Bibel in der Schweiz – zumal in reformierten Gegenden – in den folgenden Jahrhunderten angeht, so ist immerhin eines bemerkenswert: Die Bibel wurde dank der weitgehend engen Allianz von kirchlichen und politischen Obrigkeiten bald zu einem Buch, dessen Auslegung von den Regierungen in protestantischen Territorien oft auch dazu instrumentalisiert worden ist, um sich die Untertanen gefügig zu halten. Wer sich an die obrigkeitskonforme Interpretation der Schrift hielt, der gehorchte. Und wer mal auf die schiefe Bahn geriet und im Gefängnis landete, der fand dort bis in die jüngste Zeit in seiner Zelle immerhin das vor, was ihn wieder auf den guten Weg zurückführen sollte: Eine Bibel.

Damit war ein langer Weg zurückgelegt: Aus der Bibel, deren kirchlich-theologischer und sozial-politischer Zündstoff die Mächtigen am Anfang der Tätigkeit Zwinglis irritiert hatte, war ein domestiziertes Instrument zum bürgerlichen Wohlverhalten und zur Erhaltung des Status Quo geworden. Man hatte verdrängt und vergessen, dass die biblische Botschaft durchaus auch fundamentale Kritik an den Ist-Zuständen selbst im sogenannt «christlichen Abendland» auslösen konnte, ja bisweilen musste (bzw. gemusst hätte…).

Titelblatt der Zürcher Froschauer-Bibel von 1536 – aus dem Bestand der täuferischen Friedersmatt-Gemeinde (Bowil), deren Mitglieder bis ins 18. Jhrt. zu Dutzenden von der Berner Obrigkeit inhaftiert, enteignet und ausgeschafft wurden (Archiv des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte, Bienenberg/Liestal, Foto HPJ).

Szenenwechsel. Schweiz 1970er Jahre. Inspiriert u.a. auch vom täuferischen Pazifismus verweigerte ich den Militärdienst und wurde zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt. Im Basler Untersuchungs-Gefängnis Lohnhof wurde es mir nicht erlaubt, Studienliteratur mit in die Zelle zu nehmen. Das einzige Buch, das ich lesen durfte, war die Bibel. Als ich dem Gefängnisaufseher mein Erstaunen ausdrückte, dass just DAS Buch, das mich mit ins Gefängnis gebracht hatte, hier von Staates wegen anstandslos erlaubt sei, reagierte er unwirsch und verärgert und hiess mich schweigen…

Ich betrat meine Zelle. Ich musste an den Täufer Hans Seckler aus Lausen bei Liestal denken. Dieser hatte kurz nach der Ertränkung von Mantz in Zürich, und unmittelbar vor seiner eigenen Hinrichtung in Bern im Hinblick auf das, was er aus der Bibel zu Gewalt und Krieg gelernt hatte, folgendes gesagt: «Was werend wir für Christen, wan wir ess rechen wetten an die, so uns ferfolgen. Wir haben Christus nit also glernet, das wir solen Argss und Bessess dun denen, so uns Leytz duont, sunder wir sellen in Guotz duon. Dass wend wir ouch tun, diewil wir leben.»

Lange gelebt hat Seckler dann effektiv nicht mehr. Aber sein Zeugnis hat seine Kraft bis heute behalten, über alle Grenzen der Religionen und Konfessionen hinaus… Und es bleibt dabei: Auf die Spur gebracht wurden diese frühen Schweizer Täufer massgeblich durch Zwingli und sein wissenschaftlich reflektiertes und mutiges Eintreten für das Ernstnehmen der biblischen Aussagen. Und das Beispiel (nicht aller, aber) mancher pazifistischer Täuferinnen und Täufer bleibt ein Beleg dafür, dass dieses Ernstnehmen von «Heiligen Schriften» weder notwendigerweise zu menschenverachtendem Fundamentalismus und naiver Buchstabengläubigkeit, noch zu alles relativierend-indifferenter Beliebigkeit führen muss. Auch wenn ein in manchen Medien mittlerweile hip daherkommendes Pauschal-Bashing gegen «frommes Bibellesen» uns dies bisweilen glauben machen möchte…

So oder so: Wer an Reformation und Täufertum und deren möglicher Relevanz für die Gegenwart interessiert ist, darf sich diesen Film eigentlich nicht entgehen lassen! (Und auch unser täufergeschichtliches Symposium nicht: https://mennonitica.ch/2877-2/)

Hanspeter Jecker

Vgl. zum Zwingli-Film auch den Blog-Beitrag https://de.bienenberg.ch/blog/zwinglifilm

 

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