Marianna Gerber aus dem Berner Jura – „Gottes Engel der Barmherzigkeit“ inmitten des Armenier-Genozids

Marianna Gerber (1858-1917) – „Mutter vieler Waisen“ [Portrait aus M.A.Gerber „Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future“, Pasadena 1917]

Durch seine offizielle Anerkennung als Genozid hat US-Präsident Joe Biden den Völkermord an den Armeniern in diesen Tagen erneut ins Blickfeld einer breiteren Weltöffentlichkeit gestellt. Je nach Schätzung kamen dabei vor und während des Ersten Weltkrieges durch Massaker und auf Todesmärschen zwischen 300’000 und mehr als 1,5 Millionen meist christliche Armenierinnen und Armenier im damaligen Osmanischen Reich, dem Vorläufer der heutigen Türkei, ums Leben. Während die offizielle Türkei diese Ereignisse bis heute als «kriegsbedingte Massnahmen» bezeichnet, sieht die grosse Mehrheit der historischen Forschung es aufgrund zahlreicher Dokumente als erwiesen an, dass die osmanisch-türkische Regierung die systematische Vernichtung eines gesamten Volkes bewusst anvisiert hat. Damit stellt der Völkermord an den Armeniern nicht nur den ersten planmässigen Genozid des 20. Jahrhunderts dar – er diente den Nationalsozialisten kurz danach auch als Modell für den Holocaust der Juden.

Auch wenn der Armenier-Genozid bereits recht gut erforscht ist, so dürfen die Bemühungen, zu dokumentieren, was da geschehen ist, nie aufhören. Es gibt eine Pflicht zur Erinnerung. Es ist mit Paul Ricoeur die Pflicht, Geschundenen und Geschlagenen wenigstens durch Erinnerung noch etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und nur so darf zaghaft gehofft werden, dass Menschen sich durch die Konfrontation mit den Ereignissen der Vergangenheit so sensibilisieren lassen, dass sich solche schlimmen Vorkommnisse in Zukunft möglichst niemals wiederholen werden.

Für manche mag es überraschend sein zu vernehmen, dass auch seitens der schweizerischen Täufergeschichte wenigstens ein solcher Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Armenier-Genozids ganz direkt erfolgen könnte.

Gemeint sind damit Leben und Werk der auf dem Bauernhof Les Veaux bei Les Genevez (damals Berner Jura, heute Kanton Jura) aufgewachsenen Marianne Gerber (1858– 1917).1 Sie wurde am 30. Mai 1858 als Tochter des mennonitischen Ehepaars Christian und Elisabeth Gerber-Geiser geboren. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass aus dieser Familie noch eine zweite Tochter einen wichtigen Beitrag im Rahmen der internationalen Missionsarbeit leistete: Es ist ihre jüngere Schwester Marie (1869-1910), die zusammen mit ihrem Mann Rodolphe Petter (1865-1947) eine noch lange nachwirkende Tätigkeit unter den Cheyenne in Oklahoma ausübte.

Einträge der Geburten von Marianne Gerber und ihrer Schwester Maria (vertikal!) im Heimatrodel der Täuferfamilien von Langnau (StABE, KB Langnau 36, p.79).

Marianna liess sich im Alter von 16 Jahren in der mennonitischen Sonnenberg-Gemeinde zwar taufen, sprach im Rückblick aber von einer Zeit geistlicher Leere, die sie mit weltlichen Vergnügen übertünchte. Prägend wurde für sie der Durchbruch ihrer durch Glaubenszweifel zunehmend depressiv gewordenen Mutter zu einer frohen Glaubensgewissheit um die Mitte der 1870er Jahre. Im Alter von 20 Jahren machte sie dann im Rahmen der auch im Jura mehr und mehr um sich greifenden Heiligungsbewegung ebenfalls eine einschneidende Bekehrungserfahrung mit innerer und äusserer Heilung. Fortan war sie entschlossen, ihr Leben ganz „in den Dienst Jesu“ zu stellen.2

Sie setzte es gegen den Widerstand ihres Vaters durch, dass in der Familie eine tägliche Andacht gehalten wurde. Sie organisierte in Nachbarschaft und Gemeinde eine Sonntagschule. Sie lud zu Jugendtreffen ein, besuchte Kranke und scheute sich auch nicht, in der Öffentlichkeit mit der Bibel in der Hand zum Glauben aufzurufen. Das rief die Ältesten ihrer Mennonitengemeinde auf den Plan. Irritiert von dieser „alle bisherigen Regeln ignorierenden jungen Schwester“, berieten die kirchlichen Vorgesetzten, was nun zu tun sei. Dabei fand jener Gemeindeleiter Zustimmung, der zur Gelassenheit riet, zumal es sich bei Marianna Gerbers Aktivismus wohl um ein Strohfeuer handle, das so rasch wieder verschwinden werde, wie es aufgetaucht sei. In diesem Punkt allerdings sollte sich dieser Gottesmann fundamental täuschen.

Marianna Gerber trat 1881 in das Berner Diakonissenhaus ein, wo sie sich zur Krankenschwester ausbilden liess. 1885 verliess sie das Heim allerdings bereits wieder, nachdem die Oberschwester zur Überzeugung gelangt war, sie habe einen zu unabhängigen und eigenwilligen Geist, der nicht in das Diakonissenheim passe. In den folgenden Jahren wirkte sie in Tramelan als „Stadtmissionarin“. In ihrer evangelistischen und sozial-diakonischen Tätigkeit zugunsten von Armen und Kranken erfuhr sie nach eigenen Angaben im Kreise von Gleichgesinnten auf besondere Weise die Ausgiessung des Heiligen Geistes. Diese äusserte sich bei ihr massgeblich in Sprachengebet und der Gabe der Krankenheilung. Diese Offenheit für pfingstlich-charismatische Akzente sollte zeitlebens ein charakteristisches Merkmal von Marianna Gerbers Wirken bleiben.

1889 lernte Marianna Gerber den auf dem Münsterberg bei Moutier geborenen und als Kind mit seinen Eltern nach Nordamerika ausgewanderten John A. Sprunger kennen. Dieser befand sich mit seiner Frau in der Schweiz im Rahmen eines mehrmonatigen pastoralen Besuchs, wo er Gemeinden besuchte, predigte und evangelisierte, und dabei auch für diakonische und missionarische Projekte nordamerikanischer Mennoniten warb. Marianna Gerber interessierte sich vor allem für dessen Vision eines Diakonissenwerkes in den USA. Sie reiste darum im Sommer 1891 nach New York, wo sie eine Missionsschule besuchte. Anschliessend half sie Sprunger 1892 bei der Ausbildung der ersten Gruppe von Diakonissen für die neue Missionsgesellschaft Light & Hope. Maria knüpfte auch Kontakte zu Dwight Moody und dessen Bibelinstitut in Chicago, und während der Weltausstellung 1893 wirkte sie in einem Team mit, welches Moody bei seinen Evangelisationen mit Wortbeiträgen und Gesang unterstützte.

Als 1894 in Cleveland (Ohio) das Light and Hope Diakonissen-Spitals eröffnet wurde, bekleidete sie das Amt einer „Hausmutter“. In jenen Jahren hörte sie erstmals von der Notlage der verfolgten Armenier im Osmanischen Reich. Zusammen mit ihrer Mitschwester Rose Lambert wurde ihr das Schicksal der zahlreichen Waisenkinder, deren Eltern im Rahmen der Armenier-Verfolgung von Handlangern des Osmanischen Reichs bereits umgebracht worden waren, zu einem Herzensanliegen.

Marianna Gerber (ca. 1896) [Photo Courtesy Max Haines]

Ob dieses Mitgefühl der beiden Frauen mit der Not der Armenier wohl durch ihre gemeinsamen Wurzeln in der ebenfalls Jahrhunderte lang verfolgten Täuferbewegung der Schweiz mitgeprägt war? Mariannas Vater jedenfalls war ein Gerber aus Langnau im Emmental, die Mutter eine Geiser aus Langenthal, Roses Mutter eine Gäumann aus Grosshöchstetten – alles Nachfahren von Menschen, die als religiöse Minderheit wegen ihres täuferischen Glaubens aus der bernischen Heimat vertrieben worden waren, weil die Obrigkeit ihr Territorium „täuferfrei“ halten wollte… (Damit war die Täuferverfolgung in der Schweiz sicher kein Genozid, aber mit der Verfolgung der Armenier war ihr gemeinsam, dass eindeutig die obrigkeitliche Absicht bestand, eine ganze Glaubensgemeinschaft und religiöse Kultur auf dem eigenen Territorium zu eliminieren.)

Im November 1898 brachen die beiden Frauen in die Türkei auf und begannen ihre Arbeit in Hadjin (heute Saimbeyli), einer damals 30.000 Einwohner zählenden Stadt im Taurusgebirge. Die Not in der ganzen Region war – ein Jahr nach dem letzten Massaker – unbeschreiblich. Sie mieteten Häuser, in denen sie sich um 200 Waisenkinder kümmern konnten, und gaben Hunderten von hungernden Menschen zu essen. Rose Lambert verfasste später ein Buch über diese notvolle Zeit mit dem Titel «Hadjin, and the Armenian Massacres» (1911). Um sich ein Bild von der Lage der armenischen Bevölkerung zu machen, reiste Marianna oft von Dorf zu Dorf und ermutigte die Menschen mit evangelistischen Botschaften. Dank ihrer Gabe, Sprachen leicht zu erlernen, konnte sich Maria bald auch auf Türkisch verständigen. In Hadjin fand sie Wege, den vielen Witwen Arbeit zu verschaffen, damit diese für sich selbst sorgen konnten. Dies erfolgte im Rahmen der 1901 gegründeten United Orphanage and Mission Society. Unterstützung für das Waisenhaus gab es von Freunden in Europa und aus Nordamerika, speziell auch von mennonitischen Bekannten aus Deutschland und Russland. Auch im Wochenblatt «Zionspilger» der Schweizer Mennoniten erschienen Berichte von ihrer Arbeit.

„Wer vermag in Worte zu fassen, oder wo ist die Feder, die
in der Lage ist, das blutige Bild des armenischen Volkes zu zeigen? Die Macht der Sprache reicht nicht aus, um zu beschreiben, was geschehen ist, oder was immer noch geschieht?“ (Marianna Gerber 1917).             Bild: Marianna Gerber umgeben von Waisenkindern bei Zinjidere  [Photo Courtesy Max Haines / https://gameo.org/index.php?title=Gerber,_Maria_A._(1858-1917)]

Nach fünf Jahren in Hadjin kehrte Marianna Gerber 1902 zur Erholung in die USA zurück, da ihr ihre Gesundheit zu schaffen machte. Als die sendende Missionsbehörde der Allgemeinen Konferenz der Mennoniten eingegliedert und umstrukturiert wurde, sah Marianna Gerber darin die Unabhängigkeit ihrer Arbeit gefährdet und kündete 1903 ihr Dienstverhältnis. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei im Jahr 1904 arbeitete Marianna mit Unterstützung ihres grossen, zunehmend überdenominationellen Freundeskreises sechs Monate lang in Konya (Iconium) und zog dann in die Nähe der Stadt Kayseri (Caesarea) in Kappadozien. Hier ermöglichte ihr ein Kreis von Freunden, innerhalb von zwei Jahren vier neue Häuser zu bauen, um 1908 in Zinjidere das Zion-Waisenhaus eröffnen zu können.

Grundsteinlegung für den Bau des Zion-Waisenhauses in Zinjidere 1906. Marianna Gerber vorne unten rechts (Foto aus M.A.Gerber „Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future“, Pasadena 1917)

Eine erneute Erkrankung und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwangen Marianna Gerber 1914 zur Rückreise in die USA, noch bevor der Völkermord an den Armeniern seine volle Wucht entfaltete. 1917 publizierte sie ein Buch in Englisch über ihr eigenes Leben mit dem Titel „Vergangene Erfahrungen, gegenwärtige Lage, Hoffnung für die Zukunft„.3 Das Buch ist eine eindrückliche Mischung von erbaulich-selbstkritischer Autobiographie, von unbändiger Liebe zu Armen und Kranken, Witwen und Waisen, von Mut und Schaffenskraft einer engagierten und eigenwilligen Frau und von erstaunlicher politischer und religionsgeschichtlicher Analyse. Der Druck des Buches sollte damals helfen, Geld für ihr Waisenhaus zu sammeln, zu dem sie nach dem Krieg zurückzukehren gedachte.

Marianna Gerber mit einer Gruppe armenischer Witwen (aus: M.A.Gerber „Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future“, Pasadena 1917)

Nach mehreren Schlaganfällen starb Marianna Gerber allerdings noch im gleichen Jahr am 6. Dezember 1917. In armenischen Kreisen wurde sie von denjenigen, welche die Massaker von 1914/1915 überlebt hatten, noch lange als «Gottes Engel der Barmherzigkeit» in hohen Ehren gehalten.

In täuferisch-mennonitischen Kreisen der Schweiz scheint Marianna Gerber schon bald in Vergessenheit geraten zu sein: Ihr Tod wird in deren Zeitschrift „Zionspilger“ (Nr. 4/1918 vom 27. Januar 1918) bloss in einer kurzen Notiz vermerkt und in Samuel H. Geisers Standardwerk „Die Taufgesinnten Gemeinden“ von 1971 wird sie grad knapp vermerkt (573). Dies im Gegensatz zu nordamerikanischen Kirchen mit pfingstlicher Tradition, denen sie sich in ihren letzten Lebensjahren zunehmend verbunden fühlte und wo die Erinnerung an sie bis in die Gegenwart wach behalten wird.

Diese wenigen Pinselstriche vermögen Leben und Werk von Marianna Gerber nur unzureichend zu skizzieren. Aber die Quellenlage zumal in der Schweiz und Nordamerika scheint gut genug zu sein für eine umfassendere Studie über diese profilierte und eindrückliche Persönlichkeit aus täuferisch-mennonitischen Kreisen des früheren Berner Jura.

(Nachtrag: Eine ausführliche Studie über Marianna Gerber erscheint in Mennonitica Helvetica 44 (2021). Mehr dazu hier.)

Anmerkungen:

  1. Der Vorname hat in der Literatur einige Verwirrung verursacht, weil er immer wieder in unterschiedlicher Schreibweise auftaucht. Im Taufregister der Sonnenberg-Gemeinde im Archiv der Konferenz der Mennoniten der Schweiz heisst sie „Mariana“ (p. 16v), im Heimatrodel der Täuferfamilien von Langnau im Staatsarchiv Bern „Marianne“ (Kirchenbuch Langnau 36, p.79). Und in manchen englischen Texten wurde sie dann zu „Marie A.“
  2. Vgl. dazu Ulrich J. Gerber: Die Erweckungszeit um 1900 und ihre Auswirkungen bei den Jura-Täufergemeinden und bei der reformierten Kirchgemeinde Oberbalm, in: MH 37 (2014), 97–140, speziell 120f.
  3. Die englische Originalversion: Maria A. Gerber, Passed Experiences, Present Conditions, Hope for the Future. Ramsey-Burnes Printing Co., Pasadena, California, 1917 wurde vor einigen Jahren ins Französische übersetzt: Pour l’Amour de l’Arménie, Verlag Yvonne Zbinden 2011, ISBN: 978-2-35682-045-7.

(Die wichtigsten Quellen zu diesem Beitrag sind über die angegebenen Links leicht zu erschliessen!)

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