Eine Weihnachtsgeschichte aus Schleitheim

Hinweistafel zum Täuferweg am Randen (Kanton Schaffhausen)

Noch einmal Weihnachten feiern…

(von Doris Brodbeck)

Wenigstens noch einmal möchte sie in der Heimat in Schleitheim Weihnachten feiern, gab die Täuferin Anna Meyer im September 1642 dem Weibel zur Antwort, als er ihrem Mann Christen Bechtold das Urteil des Rats der Stadt Schaffhausen überbrachte. Der Täufer wurde mit Ausweisung bestraft, weil er sich weigerte, seinen Glauben aufzugeben. Auch ein Glaubensverhör und danach Rutenstriche hatte ihr Mann zu erdulden gehabt, und allen fünf aus dem Gefängnis ausgebrochenen Täufern nahm man Vieh und Äcker weg. Anna Meyers Glaube war stark herausgefordert. Wie sollten sie nun den kommenden Winter überstehen? Man hatte bereits die Ernte dieses Jahres eingezogen, um die Kosten für den Ausbruch aus dem Gefängnis zu bezahlen. Ihr Mann hatte für den Ausbruch einen Ofen beschädigt, indem er die Öffnung des Ofenrohrs erweitert hatte und auch die Stadtmauer musste repariert werden, weil ein Stein herausgebrochen worden war. Doch nun, was blieb ihnen noch zum Leben? Ja, es blieben nur noch die Reben, die sie von der Gemeinde gepachtet hatten. Sie lagen auf der anderen Seite des Dorfbaches, am sonnenbeschienenen Staufenberg, jenseits des Schaffhauser Hoheitsgebiets. Annas Mann Christen trug mit seinen gut gepflegten Reben nicht unwesentlich zur Qualität des Weines bei. Das wusste man im Dorf und man schätzte ihn.

Taufe von Christian, Sohn des als «Teüffer» bezeichneten Christian Bechtold und der Anna Meyer am 17. November 1622 (Eintrag im Taufbuch von Schleitheim)

Unterdessen war es Winter geworden und Anna dachte nicht selten an die Täuferfamilien, die nun neuerdings nicht mehr nach Mähren auswanderten wie früher. Sie zogen jetzt in die verwüsteten Kriegsgebiete in der Pfalz und in den Kraichgau. Doch dort herrschte noch immer Krieg. Auch Schleitheim war einst überfallen und geplündert worden. Das war im Jahr 1633, als Annas Jüngste gerade sechsjährig war. Anna war mit den Kindern in den Wald geflohen – zum Versteck, das sie von den Täuferversammlungen her kannte. Aber das Dorf war danach nicht wiederzuerkennen. Es war schrecklich. Sollten sie sich jetzt wirklich unter diese Soldaten begeben müssen?

Doch zuerst kam das Weihnachtsfest, und obwohl bereits Schnee lag und die Temperaturen empfindlich sanken, hatte sich Anna fest vorgenommen, Weihnachten in der Täuferversammlung zu feiern. Man traf sich draussen in der nahe gelegenen Waldschneise, die man Chälle nannte, weil der Einschnitt an eine Kehle erinnerte. Dort fand Anna Ruhe und Glaubensgewissheit. Im Dorf gab es zu viele Menschen, die auch noch stolz auf ihre Verfehlungen und ihre Bosheiten waren. Das konnte sie kaum ertragen.

Und auch die schöne, grosse Dorfkirche war ihr fremd geworden, denn der Pfarrer hatte zu oft die Mandate der Regierung verlesen, die sich gegen den Glauben der täuferisch Gesinnten richteten. Anna war es wichtig, dass sich ihre Kinder später bewusst zur Taufe entscheiden konnten, nachdem sie ihre Sünden bereut hatten. Das wusste der Pfarrer und drängte sie nicht zur Kindertaufe. Ja, er verkündete sogar von der Kanzel, dass er ihr Kind nicht taufen würde. Aber dann kam der Dekan aus der Stadt und erzwang die Taufe. So sind nun gegen ihren Willen all ihre Kinder Christen, Barbal und Margret getauft und als Täuferkinder in das Taufregister eingetragen worden.

Der Schnee knirschte unter ihren Füssen, als sie sich spät abends im Schutz der Dunkelheit mit ihren bald erwachsenen Kindern und ihrem Mann auf den Weg machte. Es war jedoch kein Neuschnee gefallen und man kam gut voran. Die Chälle befand sich eine gute Wegstunde entfernt oben im Gemeindewald am Randen. Hier, etwas abseits des Fussweges, der über den Randen in die Stadt führte, hatten vor rund hundert Jahren gar zwei Täuferfamilien in einfachen Hütten gelebt, bis diese vom Rat niedergerissen worden waren.

Sobald Anna auf die Anhöhe kam, die das Dorf von diesem Waldabschnitt trennte, war ein Feuer zwischen den Bäumen zu erkennen, bei welchem sich nun Täufer aus den umliegenden Dörfern und der Stadt einfanden. Ein warmes Glücksgefühl stieg in Anna auf. Es war, als sei Gottes Reich hier besonders nahe. Anna wollte dem himmlischen Reich mehr angehören als dem diesseitigen. Hier auf Erden wurde Krieg geführt und über einander geherrscht. Aber im himmlischen Reich fand sich die Quelle für Frieden und Gerechtigkeit.

Anna freute sich, gemeinsam mit den versammelten Menschen die Bibel lesen zu können. Und am Ende der biblischen Weihnachtsgeschichte stand sie auf und alle hörten ihr zu. «Auch unsere Familie wird losziehen müssen von hier, wie Josef und Maria mit dem Jesuskind vor der Verfolgung von Herodes fliehen mussten. Doch meine Heimat ist nicht hier, sondern im Himmel bei Gott. Hier auf Erden müssen wir tapfer sein und auf Gott hören, nicht auf Menschen. Dann leuchtet das himmlische Reich auch schon hier in der Welt auf.»

Als Anna darauf süsse Birnenstücklein verteilte, standen alle neugierig um sie herum. «Als ich vor gut zwanzig Jahren, im Jahr 1620, es war um Ostern herum, als junge Frau auf dem Feld arbeitete, da schenkte mir der Weibel ein Viertel Mass getrocknete Birnenstücklein. Das war so köstlich. Der Mann wurde darauf mit einer schweren Busse belegt, weil man uns Täufern schon damals weder Essen noch Unterkunft geben durfte. Er musste seine Tat vor dem Rat bereuen. Aber ich bin ihm noch heute dankbar dafür. Die Birnenstücklein, die ich für euch im Herbst getrocknet habe, erinnern mich an all die Unterstützung, die wir mitten in der Verfolgung erlebt haben.»

Als sich ihre Familie beim Morgengrauen auf den Heimweg machte, dachte Anna, diese heilige Nacht sollte nie mehr aufhören. Sie durfte auch noch weitere sechs Jahre bis zum Ende des Dreissigjährigen Kriegs 1648 in Schleitheim bleiben und half dann mit ihrem Mann und ihren Kindern, das zerstörte Land im Kraichgau wiederaufzubauen. Ihre Nachkommen leben heute in Kanada im Staat Ontario und staunten bei ihrem Besuch in Schleitheim, dass man sich hier noch immer an ihre Familie erinnert. Auf den Tafeln des Täuferwegs kann man vom damaligen Ausbruch aus dem Gefängnis und den Birnenstücklein erfahren.

Doris Brodbeck, Schleitheim (19.12.2019)

English Translation: A Christmas story from Schleitheim

Und hier ist die Geschichte auch zu HÖREN: https://www.ref-sh.ch/dok/31585 (mp3)

 

 

HINWEIS:

Vortrag: Täuferfamilie Bechtel von Schleitheim bis nach Kanada

Der Referent Dale Bechtel

Fr. 17.01.2020, 19.30 bis 20.30 Uhr
Gemeindestube, Kirchgasse 8, 8226 Schleitheim

 

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