Die „Wiedertäuferhütte“ auf dem Ober-Bölchen. Oder: Was COVID-19 und das Jungfraujoch mit Täufergeschichte zu tun haben

Blick von der Belchenfluh ins Baselbiet. Links unten sieht man Gutsbetrieb und Restaurant Ober-Bölchen, die frühere „Wiedertäufer-Hütte“ oberhalb von Eptingen (Foto Eliane Kipfer).

Nach dem Covid-19-bedingten Ausbleiben asiatischer Touristen titeln Schweizer Medien: «Die Schweizer erobern das Jungfraujoch zurück!». Anstatt Japanisch, Chinesisch und Koreanisch erklinge dort neuerdings Schwytzertütsch und Romandie-Französisch. Aber auch Destinationen wie das Freilichtmuseum Ballenberg bei Brienz im Berner Oberland ist plötzlich wieder propevoll mit Thurgauern, Solothurnern und Wallisern und selbst das Restaurant Kemmeriboden-Bad unterhalb der Furgge im hintersten Emmental kann nicht allen Besuchern sofort einen der vielen Tische zuweisen und muss Besucherinnen und Besucher bisweilen warten lassen, bis wieder etwas frei geworden ist.

Die Furgge (Hohgant) von Schangnau aus gesehen. Der dank Katharina Zimmermanns gleichnamigem Täufer-Roman bekannte Berg hat sich allerdings noch nicht zum touristischen Renner entwickelt… (Foto HPJ)

In der Tat: Schweizerinnen und Schweizer entdecken nach dem Stornieren ihrer Auslandferien wieder einmal die Schönheiten des eigenen Landes.

Neben Reisen zu den bekannten touristischen Hotspots im eigenen Land bietet sich damit allerdings auch DIE Gelegenheit, um auch unbekanntere Schauplätze zu erkunden. Für die Täufergeschichte könnte das heissen: Exkursionen abseits der ausgetretenen Trampelpfade mennonitischer Pilgerinnen und Wallfahrer etwa in der Zürcher Altstadt oder zur Täuferhöhle bei Bäretswil (ZH), abseits von Schloss-Trachselwald-Besichtigungen im Emmental und abseits von Anabaptist History Tour-Expeditionen zum Pont des anabaptistes oder zum Geisskirchli im Berner Jura.

Exkursionen zum Beispiel ins Baselbiet, auf den Ober-Bölchen etwa, zur sogenannten «Wiedertäuferhütte», wie man diesen Sennhof früher nannte, und wo sich heute ein Gasthof befindet.

Hier, unweit des Nordportals des Belchentunnels der Autobahn A2, auf fast 900 Meter Höhe, befand sich in den 1720er Jahren eines der Zentren einer täuferisch-pietistischen Erweckung rund um den Laienprediger Hans Martin aus Pratteln.

Immer mehr Menschen begannen am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, an Lehre und Leben der be­stehen­den Konfessionen irre zu werden. Immer mehr drängten nach ei­nem Neuaufbruch und sehnten sich nach geistlicher Erweckung. Und tatsächlich: Mit dem Pietismus war seit einigen Jahren eine Bewegung entstanden, die aus den Engführungen der Orthodoxie herauszuführen versprach: Anstelle blosser „rechter Lehre“ sollte nun auch „rechte Praxis“ gepflegt werden. Überall im Land entstanden Bibellese- und Gebetskreise. Vertreter traditioneller Kirchlichkeit und Obrigkeiten sahen sich durch diese Aufbrüche oft bedroht und versuchten sie einzudämmen. Nicht alle Erneuerungswilligen liessen sich allerdings in vorgegebene Institutionen einbin­den oder in erbauliche Privatheit abdrängen.

Immer wieder kam es um 1700 zu Kontakten zwischen solchen „Pietisten“ und dem aus der Reformationszeit stammenden Täufertum. Auch dieses hatte – nach Jahrhunderten der blutigen Unterdrückung – da und dort an in­nerem Schwung verloren und stand – ähnlich wie die Grosskirchen – in der Gefahr der Erstarrung. Es scheint aber, dass das Täufertum seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts auch in der Schweiz auf Erneuerungswillige wieder eine wachsende Anziehungskraft ausübte. Bezeichnenderweise glaubten manche Zeitgenossen, dass wer ernsthaft und glaubwürdig Christ sein wolle, über kurz oder lang zum Täufertum treten müsse. Zwar war für manche der zu bezahlende Preis eines solchen Beitritts zu hoch – immerhin drohte dabei im Normalfall Gefangenschaft, Güterkonfiskation und Landesverweisung. Es lässt aber aufhorchen, dass mit Johann Jakob Wolleb von Tenniken im Baselbiet anno 1722 auch ein reformierter Pfarrer im Baselbiet ein Buch publiziert hat, worin er seine eigenen Kirchgenossen von einem Übertritt zum Täufertum abhalten will: Der Titel des Buches lautet «Gespräch zwischen einem Pietisten und einem Wiedertäuffer». Als erneuerungswilliger Landeskirchler befürchtete er die Abwanderung seiner engagiertesten Kirchenmitglieder, auf die er bei seinem Kampf gegen die Missstände im eigenen reformierten Lager so dringend angewiesen wäre! Sein Buch dürfte eine Antwort gewesen sein auf die durch Hans Martin mitgeprägte Aufbruchsbewegung im Raum Diegten-Eptingen-Oberbölchen!

Titelblatt des 1722 vom Tenniker Pfarrer Johann Jakob Wolleb publizierten Buch zur besseren Unterscheidung von Pietismus und Täufertum.

Den Behörden fehlt in diesem Umfeld von Täufertum und Pietismus oft noch das nötige Differenzierungsvermögen. Bei entsprechenden religiösen Normabweichungen wird auch in Basel weiterhin der berüchtigte „Wiedertäufer“-Artikel der Basler Kirchenordnung von 1595 zur Anwendung gebracht, Haft, Güterkonfiskation und Verbannung vorsieht.

Es fehlt hier der Platz, um die spannende und dramatische Geschichte des Hans Martin zu erzählen, die ihn und seine Familie fast ein Leben lang auf der Flucht vor obrigkeitlichen Nachstellungen durch die halbe Welt herumirren liess: Vom Baselbiet ins niederländische Friesland, vom Hackboden im Emmental via den Mont Soleil im Berner Jura bis nach North Carolina in Amerika…  (Vgl. dazu aber die ausführliche Darstellung in MENNONITICA HELVETICA 24/25 [2001/2002], ferner unseren Blog-Beitrag von April 2020)

Anregungen zu täufergeschichtlichen Ausflügen auch an unbekanntere Orte liefern übrigens u.a. der Exkursionsführer von Markus Rediger und Erwin Röthlisberger «Täuferführer der Schweiz» oder das Geschichten-Bändchen von Hanspeter Jecker «Von Pietisten, Separatisten und Wiedertäufern» (Online unter: https://issuu.com/ebraun/docs/jeker).

Die vom Hotel Bienenberg im Juli 2020 organisierte Tour d’Histoire führte am Hof Grütsch bei Niederdorf vorbei (Foto Markus Rediger)

Vgl. zum Thema täufergeschichtlicher Exkursionen auch das interessante «Täuferspuren»-Projekt deutscher Mennoniten.

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