Täufergeschichtliche Nebenschauplätze : Das Beispiel Thierachern bei Thun

Titelblatt des ersten Chorgerichtsmanuals von Thierachern (1587-1615) (Kirchgemeinearchiv Thierachern)

In der schweizerischen Öffentlichkeit wird das bernische Täufertum immer noch sehr stark mit der Landschaft Emmental assoziiert. Das Täuferjahr 2007 hat hier nicht unwesentlich dazu beigetragen. Das ist insofern auch richtig und berechtigt, als das Emmental die einzige Gegend der ganzen Schweiz ist, wo diese kirchliche Erneuerungsbewegung von der Reformation bis in die Gegenwart eine ungebrochene Präsenz aufweist. Trotz jahrhundertelanger Repression.

Diese Fokussierung auf das Emmental lässt aber bisweilen vergessen, dass es in der Schweiz zahlreiche Regionen, Talschaften und Dörfer gibt, wo täuferische Überzeugungen phasenweise eine nicht minder bedeutsame Rolle gespielt haben. Auch im Bernbiet.

Manchmal bringen dies lokale Initiativen bei der Aufarbeitung der Geschichte des eigenen Dorfes erneut an den Tag. So geschehen im Fall von Thierachern bei Thun. Soeben ist das reich illustrierte Buch «Thierachern  – Eine Reise durch Raum und Zeit» erschienen.

Soeben erschienene Dorfchronik von Thierachern bei Thun

Via eine unscheinbare Illustration (p.32) wird plötzlich deutlich: Alte Chorgerichtsmanuale enthalten bisher unbekannt gebliebene Sachverhalte und Zusammenhänge. Hier schlummern noch spannende Herausforderungen für nächste Generationen von Forschenden! Gerade die Landschaft zwischen Thun und Bern westlich des Aarelaufs bis hin zum Gürbe- und Stockental ist täufergeschichtlich noch recht wenig erforscht. Und dies, obwohl hier die Wurzeln von so weit verzweigten Täuferfamilien wie den Nafzigers, den Stutzmanns, den Wenger oder den Zehr liegen, von denen vor allem in Nordamerika Tausende von Nachkommen leben!

Die auf Seite 32 abgebildete Doppelseite aus dem ältesten Chorgerichtsmanual von Thierachern enthält zahlreiche Eintragungen über lokale Täuferinnen und Täufer! Genannt werden für die Familiennamen Wenger, Fürstenberg, Bieri und Blösch. (Zur Kirchgemeinde Thierachern gehörten damals auch Uetendorf, Uebeschi und Pohlern!)

Weitere interessante Entdeckungen – wie in diesem Blog im Falle von Blumenstein und der Familie Herr bereits vorgestellt – sind zu erwarten. Der Schweizerische Verein für Täufergeschichte mit seinem Jahrbuch MENNONITICA HELVETICA wird darüber berichten!

An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön all jenen, die via ihre Vereins-Mitgliedschaft diese Forschungen im vergangenen Jahr konkret unterstützt haben – und natürlich vor allem auch all jenen, die dies weiterhin bzw. ab jetzt (!) zu tun gedenken!

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Eine Weihnachtsgeschichte aus Schleitheim

Hinweistafel zum Täuferweg am Randen (Kanton Schaffhausen)

Noch einmal Weihnachten feiern…

(von Doris Brodbeck)

Wenigstens noch einmal möchte sie in der Heimat in Schleitheim Weihnachten feiern, gab die Täuferin Anna Meyer im September 1642 dem Weibel zur Antwort, als er ihrem Mann Christen Bechtold das Urteil des Rats der Stadt Schaffhausen überbrachte. Der Täufer wurde mit Ausweisung bestraft, weil er sich weigerte, seinen Glauben aufzugeben. Auch ein Glaubensverhör und danach Rutenstriche hatte ihr Mann zu erdulden gehabt, und allen fünf aus dem Gefängnis ausgebrochenen Täufern nahm man Vieh und Äcker weg. Anna Meyers Glaube war stark herausgefordert. Wie sollten sie nun den kommenden Winter überstehen? Man hatte bereits die Ernte dieses Jahres eingezogen, um die Kosten für den Ausbruch aus dem Gefängnis zu bezahlen. Ihr Mann hatte für den Ausbruch einen Ofen beschädigt, indem er die Öffnung des Ofenrohrs erweitert hatte und auch die Stadtmauer musste repariert werden, weil ein Stein herausgebrochen worden war. Doch nun, was blieb ihnen noch zum Leben? Ja, es blieben nur noch die Reben, die sie von der Gemeinde gepachtet hatten. Sie lagen auf der anderen Seite des Dorfbaches, am sonnenbeschienenen Staufenberg, jenseits des Schaffhauser Hoheitsgebiets. Annas Mann Christen trug mit seinen gut gepflegten Reben nicht unwesentlich zur Qualität des Weines bei. Das wusste man im Dorf und man schätzte ihn.

Taufe von Christian, Sohn des als «Teüffer» bezeichneten Christian Bechtold und der Anna Meyer am 17. November 1622 (Eintrag im Taufbuch von Schleitheim)

Unterdessen war es Winter geworden und Anna dachte nicht selten an die Täuferfamilien, die nun neuerdings nicht mehr nach Mähren auswanderten wie früher. Sie zogen jetzt in die verwüsteten Kriegsgebiete in der Pfalz und in den Kraichgau. Doch dort herrschte noch immer Krieg. Auch Schleitheim war einst überfallen und geplündert worden. Das war im Jahr 1633, als Annas Jüngste gerade sechsjährig war. Anna war mit den Kindern in den Wald geflohen – zum Versteck, das sie von den Täuferversammlungen her kannte. Aber das Dorf war danach nicht wiederzuerkennen. Es war schrecklich. Sollten sie sich jetzt wirklich unter diese Soldaten begeben müssen?

Doch zuerst kam das Weihnachtsfest, und obwohl bereits Schnee lag und die Temperaturen empfindlich sanken, hatte sich Anna fest vorgenommen, Weihnachten in der Täuferversammlung zu feiern. Man traf sich draussen in der nahe gelegenen Waldschneise, die man Chälle nannte, weil der Einschnitt an eine Kehle erinnerte. Dort fand Anna Ruhe und Glaubensgewissheit. Im Dorf gab es zu viele Menschen, die auch noch stolz auf ihre Verfehlungen und ihre Bosheiten waren. Das konnte sie kaum ertragen.

Und auch die schöne, grosse Dorfkirche war ihr fremd geworden, denn der Pfarrer hatte zu oft die Mandate der Regierung verlesen, die sich gegen den Glauben der täuferisch Gesinnten richteten. Anna war es wichtig, dass sich ihre Kinder später bewusst zur Taufe entscheiden konnten, nachdem sie ihre Sünden bereut hatten. Das wusste der Pfarrer und drängte sie nicht zur Kindertaufe. Ja, er verkündete sogar von der Kanzel, dass er ihr Kind nicht taufen würde. Aber dann kam der Dekan aus der Stadt und erzwang die Taufe. So sind nun gegen ihren Willen all ihre Kinder Christen, Barbal und Margret getauft und als Täuferkinder in das Taufregister eingetragen worden.

Der Schnee knirschte unter ihren Füssen, als sie sich spät abends im Schutz der Dunkelheit mit ihren bald erwachsenen Kindern und ihrem Mann auf den Weg machte. Es war jedoch kein Neuschnee gefallen und man kam gut voran. Die Chälle befand sich eine gute Wegstunde entfernt oben im Gemeindewald am Randen. Hier, etwas abseits des Fussweges, der über den Randen in die Stadt führte, hatten vor rund hundert Jahren gar zwei Täuferfamilien in einfachen Hütten gelebt, bis diese vom Rat niedergerissen worden waren.

Sobald Anna auf die Anhöhe kam, die das Dorf von diesem Waldabschnitt trennte, war ein Feuer zwischen den Bäumen zu erkennen, bei welchem sich nun Täufer aus den umliegenden Dörfern und der Stadt einfanden. Ein warmes Glücksgefühl stieg in Anna auf. Es war, als sei Gottes Reich hier besonders nahe. Anna wollte dem himmlischen Reich mehr angehören als dem diesseitigen. Hier auf Erden wurde Krieg geführt und über einander geherrscht. Aber im himmlischen Reich fand sich die Quelle für Frieden und Gerechtigkeit.

Anna freute sich, gemeinsam mit den versammelten Menschen die Bibel lesen zu können. Und am Ende der biblischen Weihnachtsgeschichte stand sie auf und alle hörten ihr zu. «Auch unsere Familie wird losziehen müssen von hier, wie Josef und Maria mit dem Jesuskind vor der Verfolgung von Herodes fliehen mussten. Doch meine Heimat ist nicht hier, sondern im Himmel bei Gott. Hier auf Erden müssen wir tapfer sein und auf Gott hören, nicht auf Menschen. Dann leuchtet das himmlische Reich auch schon hier in der Welt auf.»

Als Anna darauf süsse Birnenstücklein verteilte, standen alle neugierig um sie herum. «Als ich vor gut zwanzig Jahren, im Jahr 1620, es war um Ostern herum, als junge Frau auf dem Feld arbeitete, da schenkte mir der Weibel ein Viertel Mass getrocknete Birnenstücklein. Das war so köstlich. Der Mann wurde darauf mit einer schweren Busse belegt, weil man uns Täufern schon damals weder Essen noch Unterkunft geben durfte. Er musste seine Tat vor dem Rat bereuen. Aber ich bin ihm noch heute dankbar dafür. Die Birnenstücklein, die ich für euch im Herbst getrocknet habe, erinnern mich an all die Unterstützung, die wir mitten in der Verfolgung erlebt haben.»

Als sich ihre Familie beim Morgengrauen auf den Heimweg machte, dachte Anna, diese heilige Nacht sollte nie mehr aufhören. Sie durfte auch noch weitere sechs Jahre bis zum Ende des Dreissigjährigen Kriegs 1648 in Schleitheim bleiben und half dann mit ihrem Mann und ihren Kindern, das zerstörte Land im Kraichgau wiederaufzubauen. Ihre Nachkommen leben heute in Kanada im Staat Ontario und staunten bei ihrem Besuch in Schleitheim, dass man sich hier noch immer an ihre Familie erinnert. Auf den Tafeln des Täuferwegs kann man vom damaligen Ausbruch aus dem Gefängnis und den Birnenstücklein erfahren.

Doris Brodbeck, Schleitheim (19.12.2019)

English Translation: A Christmas story from Schleitheim

Und hier ist die Geschichte auch zu HÖREN: https://www.ref-sh.ch/dok/31585 (mp3)

 

 

HINWEIS:

Vortrag: Täuferfamilie Bechtel von Schleitheim bis nach Kanada

Der Referent Dale Bechtel

Fr. 17.01.2020, 19.30 bis 20.30 Uhr
Gemeindestube, Kirchgasse 8, 8226 Schleitheim

 

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Die Ziegelei von Péry im Freilichtmuseum Ballenberg – noch ein Beispiel für Bezüge zur Täufergeschichte!

Die neu auf den Ballenberg transferierte Ziegelei von Péry (1763)

Das Freilichtmuseum auf dem Ballenberg bei Brienz im Berner Oberland ist immer wieder eine Reise wert. Dies auch darum, weil es immer wieder Neues zu entdecken gilt. Dieses Jahr ist es die neu hier aufgestellte Ziegelei aus Péry, die auf den Ballenberg transferiert worden ist.

Schon früher ist hier in einem Blogbeitrag darauf hingewiesen worden, dass manche Ballenberg-Häuser auch interessante Bezüge zur Täufergeschiche aufweisen. Das gilt nun auch für die 1763 unweit von Pré Gary nordöstlich von Péry erbaute Ziegelei. Aus neueren Forschungen wissen wir, dass ins Bistum geflohene Täufer bisweilen als Dachdecker tätig waren und dabei auch mit Ziegeln zu arbeiten hatten – etwa die Burkhalter aus Rüederswil in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

(Vgl. dazu nun die lesenswerte Monographie von Dale Burkhalter!)

Und dann ist ja auch bemerkenswert, dass just auf dem Hof Pré Gary für längere Zeit täuferische Pächter lebten, so etliche Baumgartner-Familien – und zwar just in jenen Jahrzehnten, wo unweit ihres Bauernhofes die “Tuilerie”, die Ziegelei ihren Betrieb aufnahm! Affaire à suivre!

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Täuferischer Beitrag zu einem UNESCO-WELTKULTURERBE: Die historische Wasserwirtschaft von Augsburg

Zwei bemerkenswerte Strassenschilder in Augsburg

ANSTOSSGÄSSCHEN BEIM PFAFFENKELLER

Zwei Strassenschilder in der süddeutschen Stadt Augsburg haben es in sich.

Bekanntlich war der unverteilte Reichtum seitens mancher bloss auf’s eigene Wohlergehen fokussierter PFAFFEN und Kleriker inmitten grösster Armut mit ein Auslöser für das Zeitalter der Reformation im 16. Jahrhundert. ANSTOSS erregten aber nicht nur die PFAFFEN mit ihren prall gefüllten WeinKELLERn und Kornkammern. ANSTOSS erregte innerhalb der seit 1520 fortschreitenden reformatorischen Erneuerungsbewegungen um Martin Luther und Ulrich Zwingli auch deren sogenannter «Linker Flügel», zu dem auch das Täufertum zählte.

Letzteres setzte sich ein für eine radikalere Transformation von Kirche und Gesellschaft, aber auch von individuellem und gemeinschaftlichem Leben. Täuferinnen und Täufer sprachen sich für Freiwilligkeit von Glaube und Kirchenmitgliedschaft aus, für Frieden und Versöhnung und gegen Kriegsdienst und Todesstrafe.

Auch das erregte ANSTOSS – weit über die alt- und neugläubigen PfaffenKELLER und Ratsstuben in katholischen, lutheranischen und zwinglianisch-reformierten Territorien hinaus. Es führte zu jahrhundertelanger Repression und Verfolgung. Um so spannender ist es, just im Falle von Augsburg Beispiele zu haben, wo Menschen mit täuferischen Überzeugungen in einer andersgläubigen Gesellschaft nicht nur im Untergrund knapp überlebt haben, sondern bei der Mitgestaltung dieser Gesellschaft wesentliche Beiträge leisteten.

E i n  solches Beispiel soll im Zusammenhang mit einem aktuellen UNESCO-Weltkulturerbe-Entscheid vorgestellt werden.

Im Vordergrund rechts einer der Wassertürme beim Roten Tor in Augsburg: Wahrscheinlich zeitweise der Wohnort des Täufertheologen und Wasseringenieurs Pilgram Marpeck und seiner Frau Anna

Am 07.07.2019 stimmte das Weltkulturerbekomitee der UNESCO für den Antrag der süddeutschen Stadt Augsburg auf Anerkennung ihrer historischen Wasserwirtschaft als Weltkulturerbe. Seit einigen Wochen wird dieses Ereignis auch in schweizerischen Medien gebührend gewürdigt (vgl. etwa die Zeitschrift DOPPELPUNKT).

Nicht immer wird dabei deutlich, dass beim Ausbau der Wasserwirtschaft in Augsburg im 16. Jahrhundert ein Mitglied der europaweit verfolgten Täuferbewegung eine wesentliche Rolle gespielt hat: Der vom Bergbau herkommende “Ingenieur” und Täufertheologe Pilgram Marpeck (1495-1556). Aufgrund seiner offenbar ausserordentlichen Fähigkeiten und Kompetenzen im Bereich der frühneuzeitlichen Wasser- und Holzwirtschaft hatte Marpeck in manchen grösseren Städten wie Strassburg und Augsburg wichtige Positionen bekleidet – obwohl seine täuferische Gesinnung bekannt war. Sein Einsatz nach dem jeremianischen Motto “Suchet der Stadt Bestes” ist eine eindrückliche Illustration dafür, dass auch radikale, nonkonformistische Glaubensüberzeugungen in einer Gesellschaft durchaus nicht automatisch immer verfolgt werden. Vielmehr werden sie vor allem dann bisweilen durchaus toleriert, ja sogar geschätzt, wenn sie Lösungen auf aktuelle Probleme und Herausforderungen eines Gemeinwesens anbieten, die sonst niemand oder niemand so gut und nachhaltig zu liefern vermag.

Genau dieser von Marpeck praktizierte “Mittelweg” zwischen totaler Separation und völliger Assimilation macht aus ihm einen der attraktivsten täuferischen Theologen und Denker des 16. Jahrhunderts. Seine Positionen beinhalten interessante Denkanstösse zu hochaktuell gebliebenen Fragen wie die nach dem Umgang von Minderheiten und Mehrheiten, oder dem Verhältnis von Einheit und Vielfalt in einer multikulturellen Gesellschaft.

Weitere Hintergründe zu Marpecks Beitrag zur Wasserversorgung in Augsburg HIER – und mehr zu Leben und Werk dieses faszinierenden Täufertheologen HIER.

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Einladung zur MITGLIEDERVERSAMMLUNG 2019 / Invitation à l’ASSEMBLÉE GÉNÉRALE 2019

St.Gallen Stiftskirche

E I N L A D U N G  zur  MITGLIEDERVERSAMMLUNG

Am Samstag, 7. September 2019 um 9.30 Uhr im reformierten Kirchgemeindehaus          St. Georgen, Demutstrasse 20, 9000 St. Gallen

Es spricht sich allmählich herum, dass etwas verpasst, wer nicht an unseren jährlichen Mitgliederversammlungen (MV) teilnimmt. Das dürfte auch dieses Jahr nicht anders sein: Die diesjährige MV führt uns als Verein nämlich nach St. Gallen. Die Ostschweizer Metropole ist vor allem berühmt wegen ihrer Stiftskirche und Stiftsbibliothek, welche von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurden. Weniger bekannt ist, dass St. Gallen und sein Hinterland auch ein ganz wichtiger Schauplatz für die frühe täuferische Bewegung gewesen ist.

Diesen täuferischen Bezügen wollen wir im Rahmen unserer diesjährigen Mitglieder-Versammlung etwas nachspüren. Wir freuen uns, dass wir mit Dr. Rudolf Gamper und Pfr. Dr. Frank Jehle zwei ausgewiesene Spezialisten der St. Galler Geschichte gewinnen konnten, die uns mit der Geschichte des Täufertums im Rahmen der regionalen Reformationsgeschichte bekannt machen werden. Es wäre schön, wenn wir viele von Ihnen in St. Gallen zu unserer MV begrüssen können. Ein weiterer Grund nach St. Gallen zu kommen: Just am 7. September ist hier Museumsnacht – auch die Stiftsbibliothek ist bis spät nachts geöffnet! https://museumsnachtsg.ch/)

St. Gallen Denkmal von Bürgermeister und Reformator Joachim von Watt, genannt Vadian (1484-1551), Schwager des Täufers Konrad Grebel

I n v i t a t i o n   à  l’Assemblée générale

 Samedi 7 septembre 2019 à 9h30, Salle de paroisse réformée St. Georgen, Demutstrasse 20, 9000 St-Gall

On dit que celui qui ne participe pas à notre assemblée des membres annuelle (AG) rate quelque chose. Il devrait en être de même cette année : Car cette année notre AG nous conduira à St-Gall. La capitale de la Suisse orientale est connue surtout pour son Abbatiale et sa Bibliothèque, qui ont été inscrites par l’UNESCO sur la liste du patrimoine culturel mondial. Ce qu’on sait moins, c’est que St-Gall et son arrière-pays ont également joué un rôle très important aux débuts du mouvement anabaptiste.

Nous allons investiguer un peu sur ces liens anabaptistes dans le cadre de notre assemblée des membres. Nous nous réjouissons d’avoir pu obtenir la participation du Dr Rudolf Gamper et du prof. Dr Frank Jehle, deux éminents spécialistes de l’histoire de St-Gall, qui vont nous en apprendre davantage sur l’histoire de l’anabaptisme dans le cadre de l’histoire de la réforme dans la région. Nous serions heureux de pouvoir vous accueillir nombreux à St-Gall pour notre AG. Et voici une raison supplémentaire de venir à St-Gall : Ce 7 septembre aura lieu ici la Nuit des musées – la Bibliothèque sera ouverte jusque tard dans la nuit !  ( https://museumsnachtsg.ch/ )

Details  → Download:

2019 SVTG-MV_Einladung_Deutsch

2019 AG_invitation

PS. Auch kurzfristige Anmeldung noch möglich! / l’inscription à court terme est encore possible !

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Kontroverse “Schweizer Brüder”

Ende März fand auf dem Bienenberg bei Liestal ein gut besuchtes internationales Symposium zum Thema «Erneuerungsbewegungen und Täufertum» statt. Die Referate dieser Tagung sollen im nächsten  Jahrbuch MENNONITICA HELVETICA 42 (2019) publiziert werden. Als Erscheinungstermin ist Dezember 2019 geplant.

Im Anschluss an das Symposium trafen sich einige Spezialisten der frühneuzeitlichen Täuferforschung zu einer ganztägigen Diskussionsrunde zum Thema «Schweizer Brüder» ebenfalls am Bildungszentrum Bienenberg. Dem Begriff, nicht aber der Sache angemessen, blieb es leider bei einer Männer-Runde…


Die Teilnehmenden der Diskussionsrunde (v.l.n.r.): John D. Roth (Goshen College University, USA), David Y. Neufeld (University of Arizona, Tucson USA), Hanspeter Jecker (Bienenberg / Liestal, Schweiz), Martin Rothkegel (Theologische Hochschule Elstal, BRD), Christian Scheidegger (Zentralbibliothek Zürich, Schweiz), Joe A. Springer (Mennonite Historical Library, Goshen USA), Karl Koop (Canadian Mennonite University, Winnipeg Kanada), C. Arnold Snyder (Conrad Grebel University, Waterloo Kanada)

Ausgangspunkt der Debatte war der kontroverse Beitrag von Martin Rothkegel in der online-Version des Mennonitischen Lexikon über die «Schweizer Brüder». Darin bezeichnete er diese «als eine von der Pfalz ausgehende Sammlungsbewegung», die ab 1540 «täuferische Restgruppen in Süddeutschland, im Elsass, der Schweiz, den Rheinlanden, Hessen und Mähren» integrierte. Diese «Schweizer Brüder» seien – so Rothkegel – weder geographisch noch theologisch so eng und so direkt mit den Anfängen des Täufertums in Zürich um 1525 und dessen anschliessender Ausbreitung in benachbarten Regionen verbunden, wie das die bisherige Forschung bisher weitgehend angenommen hatte. Dieses «Konstrukt einer kontinuierlichen konfessionellen Identität mit einem klar umrissenen, pazifistischen und ‘evangelischen’ theologischen Profil von der Frühzeit der Reformation bis zur Gegenwart» sei zurückzuweisen: Es entspreche mehr dem Wunschdenken von «nordamerikanischen „Schweizer“ Mennoniten» als der historischen Realität.

Dieser Ansicht trat in der Vergangenheit vor allem der kanadische Historiker und emeritierte Täufergeschichts-Professor Arnold Snyder entgegen, der Rothkegels Ideen mit umfangreichen Quellenhinweisen zu widerlegen suchte. Bereits zuvor hatte Snyder seinen Einspruch angemeldet mit seinem Beitrag «In Search of the Swiss Brethren” in der Zeitschrift MENNONITE QUARTERLY REVIEW 90 (2016), 421-515 oder in seiner jüngsten Publikation «Later Writings of the Swiss Anabaptists 1529-1592″ von 2018 (Foto):

Um die zunehmend kontrovers diskutierten Überzeugungen über blosse literarische Debatten hinauszuführen, moderierte John D. Roth eine ganztägige Diskussionsrunde, wo neben der Vorstellung der unterschiedlichen Positionen und einer Diskussion von deren Stärken und Schwächen sich auch dann und wann Gelegenheiten zur Vermittlung und zum Brückenbau boten.

Zum Abschluss der Tagung wurde seitens der Teilnehmenden zwar keine Erklärung zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden formuliert – zu weit lagen die Meinungen noch auseinander. Der erstmalige Austausch um einen runden Tisch von Angesicht zu Angesicht erwies sich aber gleichwohl als hilfreich. Und nach den teils sehr engagiert und kontrovers geführten Debatten bezeugt das abschliessende Gruppenbild aller Teilnehmenden (s.o.) immerhin die gute Stimmung nach Gesprächsabschluss durchaus zutreffend. Sicher ist aber auch, dass das letzte Wort in dieser Sache noch lange nicht gesprochen ist! Affaire à suivre!

Vgl. zur Thematik auch den Beitrag von David Y. Neufeld hier!

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MENNONITICA HELVETICA 41 (2018) SOEBEN ERSCHIENEN



INHALTSVERZEICHNIS /TABLE DES MATIÈRES
Hanspeter Jecker : Zum Geleit / Éditorial
3 –6

ABHANDLUNGEN / ÉTUDES
Pierre Bühler : « Es steht geschrieben / Les fous de Dieu » (1947).
Le jeune Dürrenmatt se confronte aux anabaptistes de Münster
7 – 26
Dorothea Loosli-Amstutz : Stationenweg zur Geschichte der Täufer in Bern
27 – 34
Hanspeter Jecker : Die Schweizer Anfänge von «Pionier-Siedler» Hans Herr
in Pennsylvania. Von Mythen, Legenden und neuen Einsichten
35 – 58
Hans Rudolf Lavater-Briner : «… ob sie vielleicht eine Insel fänden, wo die Bruderschaft hingehen könnte». Die abenteuerlichen Erkundungsreisen des Hutterers Johannes Sermond 1596–1608
59 – 112


QUELLEN / SOURCES
Hanspeter Jecker : «Diese Christen halten Wehrhaftigkeit in jeder Form als
unhaltbar». Ein Bericht von 1829 über die Täufer im Jura
113 – 119


MISZELLEN / MÉLANGES
Henri Spychiger : «Le Cheval des Teufets»
120 – 126
Markus Jost : Sabbat, Bibel und Spinoza – Zur Beziehung zwischen Täufern
und Juden
127 – 137
Hanspeter Jecker : «Alte Handschrift – neu entdeckt. «Kurze Betrachtung»
des Emmentaler Ältesten Ulrich Steiner (1806–1877)
139 – 142
Hanspeter Jecker : Die Anfänge der «Neutäufer» im Raum
Hirzel-Horgen-Wädenswil (1834ff.)
143 – 146


KURZGESCHICHTEN ZUM REFORMATIONS-JUBILÄUM
Die Perspektive des Zürcher Täufertums
Beiträge von Urs B. Leu / C. Arnold Snyder / Hanspeter Jecker / David Y. Neufeld /
Daniel Gut / Frieder Boller / John Landis Ruth
147 – 163


HINWEIS / INFORMATION
L’Arc jurassien: Terre d’asyle des anabaptistes – un défi pour pionniers
Der Jurabogen: Asylland der Täufer – Eine Herausforderung für Pioniere
164 – 166

BUCHANZEIGEN / LIVRES PARUS
167 – 173

VEREIN / SOCIÉTÉ
Jahresbericht 2017/18 / Rapport annuel
174 – 176

Vorstandsmitglieder / Comité 2018
177

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Die Schweizer Anfänge von «Pionier-Siedler» Hans Herr in Pennsylvania. Von Mythen, Legenden und neuen Einsichten

Hans Herr (1895). Gemälde von Leon von Ossko (1855-1906), nach einer Vorlage von John Funck (1755-1831). (Original im Besitz der Lancaster Mennonite Historical Society, Foto: Joel Nofziger).

Hans Herr gilt als eine der bekanntesten und prägendsten Figuren der frühen Einwanderung und Ansiedlung schweizerischer Täufer in Nordamerika. Gleichzeitig ist aber auch bekannt, dass es zu seiner Biographie bis heute zahlreiche offene Fragen gibt.

In der nächsten Ausgabe unseres Jahrbuches MENNONITICA HELVETICA wird ein längerer Artikel anhand neu entdeckter Quellen in schweizerischen (und niederländischen) Archiven einige der bisher offenen Fragen klären, was Alter, Herkunft, verwandtschaftliche Verhältnisse und innertäuferisches Beziehungsnetz der wichtigsten Protagonisten der Herr-Familie angeht. Der Fokus liegt dabei auf der  Zeit vor ihrer Flucht in den Kraichgau (1671/1672) und der späteren Auswanderung nach Pennsylvania.

Die Publikation ist geplant für Anfang April. Eine spätere Übersetzung ins Englische ist vorgesehen. (Beides ist mittlerweile – September 2019 – erfolgt!)

Das «Hans Herr House» in Willow Street (Pennsylvania), das aber nicht vom Vater Hans, sondern 1719 vom Sohn Christian Herr erstellt worden ist (Foto HPJ).

ENGLISH TRANSLATION

The Swiss beginnings of “pioneer settler” Hans Herr in Pennsylvania.

About myths, legends and new insights

Hans Herr is regarded as one of the most famous and influential figures of the early Immigration and settlement of Swiss Anabaptists in North America. At the same time, however, it is also clear that there are still numerous unanswered questions about his biography. In the next edition of our yearbook MENNONITICA HELVETICA, a longer article will clarify some of the open questions about age, origin, kinship and the Anabaptist network of the most important protagonists of the Herr family. This will happen on the basis of newly discovered sources in Swiss (and Dutch) archives. The focus lies on the time before the Herrs flight to the Kraichgau (1671/1672) and their later emigration to Pennsylvania. The publication is planned for the end of March / beginning of April. A later translation into English is planned.

PS. Now published in PENNSYLVANIA MENNONITE HERITAGE 42, Nr.3 (July 2019), pp.70-81.

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SOLA SCRIPTURA ZWISCHEN FUNDAMENTALISMUS UND BELIEBIGKEIT

ANMERKUNGEN ZUM NEUEN ZWINGLI-FILM

Zum Jahrestag der ersten Erwachsenentaufen in Zürich am 21. Januar 1525

Chorherr Konrad Hofmann (Andrea Zogg): «Solch ein Stumpfsinn! Wollt Ihr jetzt mit dem hinterletzten Bauern über die Bibel disputieren?» (alle Fotos, wo nicht anders vermerkt: © C-Films AG)

In einem alten Strassburger Druck von 1530 – der «Chronica der Altenn Christlichen Kirchen» von Caspar Hedio – hat ein offensichtlich katholischer Besitzer und wohl noch ein Zeitgenosse von Luther und Zwingli quer durch das ganze Buch von eigener Hand Randkommentare angebracht. Darin kommt zum Ausdruck, wie er sich entsetzt und empört über das, was die Reformation ins Rollen gebracht hat.

Das Buch enthält unter anderem die Schilderung des griechischen Kirchenhistorikers Sozomenus ( gest. um 450) , wie Kaiser Valentinian (321-375) sich nicht in kirchlich-theologische Fragen einmischen wollte, da dies für ihn als Laie ausserhalb seiner Kompetenz und Befugnis liege: Solches sei Sache der Bischöfe und Priester.

Katholische Reformationskritik in Randglossen (Foto HPJ)

Lobend, und dann auch tadelnd vermerkt dazu der anonyme Randglossenschreiber: «Keiser will sich in geistlichen Sachen nit inmischen. Nota: Aber iezsunder will solches ein ieder Zeinenflicker anrüoren.»

Genau diese traditionell «altgläubige» Position kommt auch im neuen Zwingli-Film gut zum Ausdruck – auch wenn es schade ist, dass sie fast nur von unsympathisch gezeichneten Figuren artikuliert wird. Sowohl der umtriebige konservative Chorherr Konrad Hofmann (1454-1525) als auch der bischöfliche Generalvikar Johannes Faber (1478-1541) kritisieren, dass Zwingli die gesamte Zürcher Bevölkerung zum Lesen und Verstehen der Bibel animiert und dass der Zürcher Rat sich anmasst, in kirchlich-theologischen Fragen mitzureden und Entscheide zu fällen.

Dagegen wendet sich Zwingli an der Disputation von 1523 im Film mit den folgenden Worten an den Rat: «Meine Predigten sorgen für Unruhe. Ich bin bereit, alles zu hinterfragen. Auch mich selber. Messt meine Worte an der Heiligen Schrift – und nur an der Heiligen Schrift.»

Ulrich Zwingli (Max Simonischek) an der Ersten Zürcher Disputation 1523

Aufgrund biblischer Texte hat Zwingli in der Folge traditionelle katholische Lehren und Praktiken wie Fegefeuer, Ablasswesen, Heiligenverehrung, Zölibat oder Messe kritisiert und mit Hilfe der politischen Obrigkeit abgeschafft. Aufgrund biblischer Texte hat er aber auch soziale Not und Ungerechtigkeit angeprangert und neue innovative Mittel und Wege gefunden, um viele Misstände zu beheben. Und ebenfalls aufgrund biblischer Texte hat er seinen Predigtbesuchern einen Gott vorgestellt, der ihnen wohlwollend zugewandt ist, einen Gott, der vor allem anderen barmherzig und gnädig ist und auch dort liebt und Hoffnung spendet, wo Menschen scheitern und schuldig geworden sind.

Diese Botschaft sprach viele Frauen und Männer in Zürich an. Sie wollten selber die Bibel lesen, sie wollten selber verstehen, sie wollten sich selber eine Meinung bilden, und sie wollten selber mitdiskutieren und mitentscheiden, wenn es um die künftige Gestaltung von Kirche und Gesellschaft geht.

Dafür haben die altgläubigen Gegenspieler Zwinglis in Zürich nur Spott und Hohn übrig. Als Zwingli mit seinen Gefährten an der Bibelübersetzung für das Volk arbeitet, schleudert ihnen der Chorherr Konrad Hofmann entgegen: «Solch ein Stumpfsinn! Wollt Ihr jetzt mit dem hinterletzten Bauern über die Bibel disputieren?»

Noch sind sie einträchtig beisammen beim Übersetzen der Bibel: Zwingli und die späteren Täufer Grebel und Mantz

Es bleibt eine Tragik der Zürcher Reformation, dass die Weggemeinschaft derer, die sich vorerst begeistert und motiviert miteinander aufmachten, um zusammen die Bibel zu lesen und aufgrund des Gelesenen sowohl das eigene Leben als auch Kirche und Gesellschaft zum Besseren umzugestalten – dass diese Weggemeinschaft schon bald zerbrach. Aus den engagiertesten Mitarbeitenden Zwinglis wurden bald die von ihm und dem Rat als Ketzer, Rebellen und pharisäische Fanatiker gebrandmarkten Täuferinnen und Täufer. Schon Ende 1524 schrieb der Kreis um die späteren Täufer Konrad Grebel und Felix Mantz im Hinblick auf die Bibel: «Nachdem aber auch wir die Schrift zur Hand genommen und auf alle möglichen Punkte hin untersucht haben, sind wir eines Besseren belehrt worden.» Am 21. Januar 1525 war mit der ersten Erwachsenentaufe der Bruch mit Zwingli vollzogen, zwei Jahre später wurde Felix Mantz in der Limmat ertränkt…

Und dass Zwingli diese Hinrichtung “zunächst vergeblich zu verhindern versucht und schliesslich als Beschluss der Obrigkeit akzeptiert” habe, wie Peter Opitz (hist. Berater für den Film) in der WELTWOCHE schreibt, so ist das schwer nachvollziehbar. Wenn Zwingli noch ein paar Tage vor dieser Hinrichtung schreiben kann „Die Wiedertäufer, die endlich einmal den Geiern vorgeworfen werden sollten, stören bei uns den Frieden der Frommen. Aber ich glaube, dass die Axt dem Baum an die Wurzel gelegt ist.“ (ZSW IX, 8) , dann klingt das für mich nicht danach, dass da einer gross leidet und schweren Herzens den Beschluss der Obrigkeit akzeptiert…

Der Täufer Felix Mantz (Michael Finger) wird hingerichtet

Einig waren sich Zwingli und die Täufer darin, dass die Bibel Zeugnis ablegt von einem Gott, der die Menschen liebt und sie zu einem Leben einlädt, das sich von dieser Liebe umgestalten und prägen lässt, sie für andere sichtbar macht und sich für Friede und Gerechtigkeit in der Welt einsetzt. Wie und von wem die Bibel allerdings auszulegen sei, wie radikal und wie rasch das Erkannte umgesetzt werden sollte, wer diese Umsetzungen beschliessen und initiieren sollte, und wie mit unterwegs auftauchenden Meinungsunterschieden umzugehen sei – an der Uneinigkeit darüber zerbrach letztlich die Reformation, nicht nur in Zürich. Und von den Appellen des Humanisten Erasmus, der die Reformation massgeblich mitinitiiert hatte, und von dessen Ermahnungen zu Toleranz und Gewissensfreiheit, war ohnehin hüben wie drüben leider kaum noch etwas zu spüren…

Was den Stellenwert der Bibel in der Schweiz – zumal in reformierten Gegenden – in den folgenden Jahrhunderten angeht, so ist immerhin eines bemerkenswert: Die Bibel wurde dank der weitgehend engen Allianz von kirchlichen und politischen Obrigkeiten bald zu einem Buch, dessen Auslegung von den Regierungen in protestantischen Territorien oft auch dazu instrumentalisiert worden ist, um sich die Untertanen gefügig zu halten. Wer sich an die obrigkeitskonforme Interpretation der Schrift hielt, der gehorchte. Und wer mal auf die schiefe Bahn geriet und im Gefängnis landete, der fand dort bis in die jüngste Zeit in seiner Zelle immerhin das vor, was ihn wieder auf den guten Weg zurückführen sollte: Eine Bibel.

Damit war ein langer Weg zurückgelegt: Aus der Bibel, deren kirchlich-theologischer und sozial-politischer Zündstoff die Mächtigen am Anfang der Tätigkeit Zwinglis irritiert hatte, war ein domestiziertes Instrument zum bürgerlichen Wohlverhalten und zur Erhaltung des Status Quo geworden. Man hatte verdrängt und vergessen, dass die biblische Botschaft durchaus auch fundamentale Kritik an den Ist-Zuständen selbst im sogenannt «christlichen Abendland» auslösen konnte, ja bisweilen musste (bzw. gemusst hätte…).

Titelblatt der Zürcher Froschauer-Bibel von 1536 – aus dem Bestand der täuferischen Friedersmatt-Gemeinde (Bowil), deren Mitglieder bis ins 18. Jhrt. zu Dutzenden von der Berner Obrigkeit inhaftiert, enteignet und ausgeschafft wurden (Archiv des Schweizerischen Vereins für Täufergeschichte, Bienenberg/Liestal, Foto HPJ).

Szenenwechsel. Schweiz 1970er Jahre. Inspiriert u.a. auch vom täuferischen Pazifismus verweigerte ich den Militärdienst und wurde zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt. Im Basler Untersuchungs-Gefängnis Lohnhof wurde es mir nicht erlaubt, Studienliteratur mit in die Zelle zu nehmen. Das einzige Buch, das ich lesen durfte, war die Bibel. Als ich dem Gefängnisaufseher mein Erstaunen ausdrückte, dass just DAS Buch, das mich mit ins Gefängnis gebracht hatte, hier von Staates wegen anstandslos erlaubt sei, reagierte er unwirsch und verärgert und hiess mich schweigen…

Ich betrat meine Zelle. Ich musste an den Täufer Hans Seckler aus Lausen bei Liestal denken. Dieser hatte kurz nach der Ertränkung von Mantz in Zürich, und unmittelbar vor seiner eigenen Hinrichtung in Bern im Hinblick auf das, was er aus der Bibel zu Gewalt und Krieg gelernt hatte, folgendes gesagt: «Was werend wir für Christen, wan wir ess rechen wetten an die, so uns ferfolgen. Wir haben Christus nit also glernet, das wir solen Argss und Bessess dun denen, so uns Leytz duont, sunder wir sellen in Guotz duon. Dass wend wir ouch tun, diewil wir leben.»

Lange gelebt hat Seckler dann effektiv nicht mehr. Aber sein Zeugnis hat seine Kraft bis heute behalten, über alle Grenzen der Religionen und Konfessionen hinaus… Und es bleibt dabei: Auf die Spur gebracht wurden diese frühen Schweizer Täufer massgeblich durch Zwingli und sein wissenschaftlich reflektiertes und mutiges Eintreten für das Ernstnehmen der biblischen Aussagen. Und das Beispiel (nicht aller, aber) mancher pazifistischer Täuferinnen und Täufer bleibt ein Beleg dafür, dass dieses Ernstnehmen von «Heiligen Schriften» weder notwendigerweise zu menschenverachtendem Fundamentalismus und naiver Buchstabengläubigkeit, noch zu alles relativierend-indifferenter Beliebigkeit führen muss. Auch wenn ein in manchen Medien mittlerweile hip daherkommendes Pauschal-Bashing gegen «frommes Bibellesen» uns dies bisweilen glauben machen möchte…

So oder so: Wer an Reformation und Täufertum und deren möglicher Relevanz für die Gegenwart interessiert ist, darf sich diesen Film eigentlich nicht entgehen lassen! (Und auch unser täufergeschichtliches Symposium nicht: https://mennonitica.ch/2877-2/)

Hanspeter Jecker

Vgl. zum Zwingli-Film auch den Blog-Beitrag https://de.bienenberg.ch/blog/zwinglifilm

 

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Zwingli und die Täufer auf Grossleinwand

VON REFORMATIONSJUBILÄEN, GEDENKTAFELN UND EMPÖRTEN STADTVÄTERN

Es war Anfang Juli 1952. Alles war bereit in Zürich für den Besuch der Delegierten der Mennonitischen Weltkonferenz, die in Basel tagte. Der reformierte Zürcher Theologieprofessor Fritz Blanke – dieser «Querdenker mit Herz» (Christoph Möhl in seiner Blanke-Biographie von 2011) – hatte alles aufgegleist für die feierliche Einweihung zweier Gedenktafeln in Zürich, um an die schwierige Geschichte der Täufer in Zürich zu erinnern.

Und da geschah es. Der Zürcher Stadtrat legte in allerletzter Minute sein Veto ein und nahm frühere Zusagen zurück. Offenbar hatte er erst jetzt den genauen Wortlaut der einen Gedenktafel sorgfältig studiert, die an der Limmat platziert werden sollte im Gedenken an den anno 1527 hier ertränkten Täufer Felix Mantz. Und dabei kam der Stadtrat zum Schluss, dass die Inschrift auf inakzeptable Weise den guten Ruf und das Ansehen Ulrich Zwinglis beschmutze. (Eine Gedenktafel kam dann erst 2004 an die Schipfe an der Limmat [Foto unten], vgl. dazu Näheres bei Michael Baumann, Gemeinsames Erbe, Zürich 2007)

67 Jahre später kommt nun ein Film über Zwingli in die Kinos (ab 17.1.2019), der nicht verschweigt, dass der Reformator der Limmatstadt durchaus eine gewisse Mitverantwortung an der Hinrichtung von Mantz trägt. Mehr noch: In der Figur von Zwinglis Frau Anna Reinhart lassen Film-Regie und Drehbuch auf überraschende Weise just diejenige Person zu einer Fürsprecherin für die Täufer werden, die dem Reformator vielleicht am nächsten steht.

Anna Reinhart und Zwingli (Foto: C-Films AG)

Historisch belegen lässt sich diese Position der Anna Reinhart zwar nicht. Aber weil wir über sie aus den Akten fast nichts Genaues wissen, ist es immerhin denkbar, dass sie so gedacht und gehandelt haben könnte. Dieser kleine Kunstgriff eröffnet dem Film einige interessante Perspektiven: An Zwingli können Fragen gestellt werden, die vielleicht so nie gestellt worden sind, oder nur von ganz anderen Personen. Auf jeden Fall tragen sie dazu bei, Zwingli doch noch wesentlich kritischer zu befragen, als sich der Zürcher Stadtrat dies 1952 wohl hätte träumen lassen…

Einzig bei den Texteinblendungen am Schluss des Films unmittelbar vor dem Abspann zum Film mit den m.E. irreführenden Aussagen zur angeblich so “friedlichen” Fortsetzung der Reformation irrlichtet mir der Geist jener heroisierend-beschönigenden Stadtrats-Mentalität von 1952 wieder befremdlich stark auf. Aber ich will das eigentlich nicht als die Schlussbotschaft des Films verstehen…

So oder so: Wer an Täufergeschichte und deren möglicher Relevanz für die Gegenwart interessiert ist, darf sich diesen Film eigentlich nicht entgehen lassen!

Ausführlichere Anmerkungen zum Film siehe unter https://de.bienenberg.ch/blog/zwinglifilm  sowie https://mennonitica.ch/sola-scriptura-zwischen-fundamentalismus-und-beliebigkeit/ sowie https://mennonitica.ch/sola-scriptura-zwischen-fundamentalismus-und-beliebigkeit/

Hanspeter Jecker

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